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17.01.2022
Oxfam: Corona und die Gewalt der Ungleichheit
Anlässlich der virtuellen „Davos Agenda“ des Weltwirtschaftsforums (17.- 21. Januar 2022) (1) hat die internationale Nothilfe- und Entwicklungsorganisation Oxfam heute den 60-seitigen Bericht „Inequality kills“ (2) veröffentlicht. Manuel Schmitt und Tobias Hausschild (Oxfam Deutschland) haben ihn auf 16 Seiten zusammengefasst und eine aktuelle Gerechtigkeitsagenda für die Mitglieder der neuen Bundesregierung, des Deutschen Bundestags und der Parteien hinzugefügt (3). Aus „Ungleichheit tötet“ wurde in der deutschen Übersetzung eine „Gewaltige Ungleichheit“. Der Bericht zeigt, wie die Corona-Pandemie soziale Ungleichheit verschärft hat, warum die Lösung in einem gerechteren Wirtschaftssystem liegt und was die Politik konkret tun sollte.
Rekordgewinne für Konzerne und Milliardär*innen auf der einen, Einkommensverluste für die meisten Menschen und zunehmende Armut auf der anderen Seite. Booster-Impfungen hier, mangelhafter oder gar kein Zugang zu Impfstoffen und Gesundheitsversorgung dort. Die Corona-Pandemie verschärft die globalen Ungleichheiten innerhalb einer Gesellschaft und zwischen den Gesellschaften. Die zehn reichsten Menschen der Welt haben ihr Vermögen auf 1,5 Billionen Dollar verdoppelt. Dagegen habe die Pandemie 160 Millionen Menschen in die Armut gestürzt.
Zur Bewältigung der Corona-Krise haben Regierungen Milliarden in die Wirtschaft gepumpt. Ein Großteil davon ist bei den Menschen hängengeblieben, die von steigenden Aktienkursen besonders profitieren. Die aktuell 2.755 Milliardär*innen haben ihr Vermögen seit Beginn der Corona-Pandemie stärker vermehrt als in den gesamten 14 Jahren zuvor. Oxfam bezieht sich auf die Zahlen des Wirtschaftsmagazins Forbes und spricht von einem „Goldrausch“, denn dieser Zuwachs an der Spitze sei in der Geschichte beispiellos! Auch in Deutschland nehme die - im Vergleich zu anderen EU- und OECD-Ländern - sehr starke Konzentration der Vermögen weiter zu. Die zehn reichsten Personen haben ihr kumuliertes Vermögen seit Beginn der Pandemie von ca. 144 Milliarden auf etwa 256 Milliarden US-Dollar gesteigert – ein Anstieg um rund 78 Prozent.
Das Oxfam-Titelbild des Berliner Grafikdesigners Ole Kaleschke zeigt: Würden sich die 10 reichsten Männer der Welt auf ihr in US-Dollarnoten gestapeltes Vermögen setzen, säßen sie 165 Kilometer hoch im All, fast auf dem halben Weg zum Mond. Raketen bräuchten sie keine mehr.
Währenddessen erreichte im Jahre 2020 die Armutsquote in Deutschland mit 16,1 Prozent einen Höchststand. Im vor einem Monat veröffentlichten „Armutsbericht 2021“ spricht der Paritätische Wohlfahrtsverband von 13,4 Millionen Menschen, die hierzulande in Armut leben. Das sei „ein trauriger neuer Rekord“. Allerdings enthalte der Ampel-Koalitionsvertrag auch Maßnahmen, die diese Rekord-Armutsquote wieder verringern könnten. (4)
Die Entwicklung ist eine Folge der strukturellen Machtverhältnisse im Wirtschaftssystem. Oxfam: „Wenn Profite für Konzerne und ihre Eigentümer*innen mehr zählen als der Schutz von Menschenrechten und des Planeten, wenn aus Kostengründen eine notwendige medizinische Behandlung verwehrt wird, wenn das Geld nicht reicht, um sich gesund zu ernähren oder Arbeitsbedingungen krank machen, dann erfahren Menschen Gewalt. Davon betroffen sind wir alle, allerdings nicht in gleichem Maße: Menschen, die in Armut leben, Frauen, Mädchen und Angehörige von Gruppen, die rassistisch diskriminiert werden, sind besonders betroffen.“ (3)
„Profit vor Gesundheit“: Der Streit um Impfstoff-Patente
Oxfam moniert, dass Pfizer/BionTech, Moderna oder Johnson & Johnson ihre Marktmacht ausgenutzt haben, um profitable Impfstoff-Verträge mit wirtschaftlich privilegierten Ländern abzuschließen. Für eine Impfstoffdosis verlangten sie das bis zu 24-fache des Produktionspreises und weitere Ausgleichzahlungen von denen, die ihre bereits gekauften und bezahlten Impfdosen an andere Länder kostenlos weitergeben. 2021 hat die Bundesregierung insgesamt 103 Millionen Impfdosen gespendet. (5)
Während Deutschland sich mit Impfverweiger*innen rumplagt und über Impfpflicht und den vierten Auffrischungsbooster debattiert, sind bisher nur 9,5 Prozent der Menschen in Ländern mit niedrigem Einkommen geimpft worden (6). Kein Staat kann sich allein aus einer globalen Pandemie herausimpfen, solange Corona in armen Ländern Unheil anrichtet. Aus Impfstoffnationalismus entsteht eher eine Endlosschleife immer neuer Virus-Mutationen.
Oxfam hielt es für einen Skandal, dass die alte Bundesregierung die exorbitanten Gewinne der Pharmakonzerne über das Wohl der Menschheit stellte und eine Aussetzung des Patentschutzes ablehnte. Bereits im Oktober 2020 hatten die Regierungen Indiens und Südafrikas einen entsprechenden Vorschlag zum sogenannten TRIPS-Waiver (7) bei der Welthandelsorganisation eingebracht. Er wird mittlerweile von mehr als 100 Ländern und zahlreichen Nichtregierungsorganisationen unterstützt.
Oxfam fordert heute in „Gewaltige Ungleichheit“ die neue Bundesregierung auf, Deutschlands bisherige Blockadehaltung aufzugeben und dem Waiver zuzustimmen, damit auch Entwicklungsländer den Impfstoff produzieren können. Doch bereits am vergangenen Wochenende war klar: Einen Kurswechsel wird es auch mit der neuen Bundesregierung nicht geben.
Seit mehr als einem Jahr bemüht sich die Welthandelsorganisation (WTO) vergeblich um eine Freigabe der Patentrechte. Mit einem informellen Online-Treffen versuchte die WTO in der vergangenen Woche erneut, das Thema „Trips Waiver“ zu lösen. „Wir müssen bei der WTO unsere Anstrengungen dringend verstärken, um ein internationales Abkommen über Patentrechte und andere Themen zu erzielen und auf diese Weise den weltweiten Kampf gegen Covid-19 voranzubringen“, mahnte die Generaldirektorin Ngozi Okonjo-Iweala. Das Auftreten der Omikron-Virusvariante habe deutlich gemacht, wie dringend es sei, die ganze Welt zu impfen. Doch das Treffen endete ohne Ergebnis. Es hat sich nach Angaben von Anja Eitel, Wirtschaftskorrespondentin der WELT (8) nicht einmal auf einen Termin für eine neue Ministerkonferenz einigen können…
Seit über einem Jahr scheitert eine angemessene globale Versorgung mit Corona-Impfstoffen, weil sie aufgrund des Patentrechts derzeit aus gerade mal aus einem Dutzend Ländern gemanagt wird. Wesentlich dazu beigetragen hat die alte Bundesregierung. Die neue Bundesregierung wird an dieser Impfstoffpolitik nicht viel ändern. Sie ist genau wie ihre Vorgängerin strikt gegen eine Freigabe der Impfstoffpatente und unterstützt stattdessen Unternehmenspartnerschaften zur Lizenzproduktion. (9) Die mit steuerfinanzierten Forschungsgeldern entwickelten Impfstoffe werden nicht als global-öffentliches Gut, sondern als ein Hebel im ökonomischen Standortwettbewerb eingesetzt.
BionTechs Lizenzeinnahmen standen im Jahre 2021 für fast ein Fünftel des deutschen Wirtschaftswachstums. (10) Der Aufschwung der deutschen Wirtschaft 2021 wäre ohne den Erfolg von BionTech deutlich kleiner ausgefallen. „Wenn man nur die impft, die sich das leisten können, kann man bald mit dem nächsten Stoff genausoviel Geld machen, wenn es dann gegen die Mutation geht, die sich dank der zahlreichen Fälle in den ärmeren Ländern bilden konnte.“ Das schrieb „Thiak“ im Februar 2021 in den Kommentarbereich von Zeit-Online (11). Elf Monate später hat BionTech/Pfizer mit der Produktion eines an die Omikron-Variante angepassten Impfstoffs begonnen. In den nächsten Tagen soll eine Studie zu dem Vakzin beginnen. Wenn die Behörden „mitspielen“, könnte es bereits ab März/April 2022 kommerziell genutzt werden (12).
Der Schweizer Wirtschaftsjournalist Christoph Eisenring kommentiert den Oxfam-Bericht heute als gefährliches Kesseltreiben gegen Milliardäre. Das Problem sei doch eher - so Eisenring -, dass Milliarden Menschen so wenig zur Verfügung haben, dass sie kaum etwas sparen könnten. Eisenrings Lösung: Freiheit zum Tausch und gesicherte Eigentumsrechte. Die hätten schließlich in den westlichen Gesellschaften innerhalb von 200 Jahren zu einem gigantischen Wohlstandsgewinn von 3.000 Prozent geführt. (13) Wie dieser „gigantische Wohlstandsgewinn“ erzielt wurde, zu welchen Ungleichheiten Tauschfreiheit und Eigentumsrechte führen und was das ganze mit Flüchtlingspolitik oder den planetaren Grenzen zu tun hat, haben Ulrich Brand und Markus Wissen in einem Buch beschrieben. Es erschien im März 2017, umfasst 224 Seiten und heißt „Imperiale Lebensweise.“ (14) Oxfam fasst es kürzer: „Der Fehler liegt im System.“
Anmerkungen
1. World Economic Forum. [Online] [Zitat vom: 17. Januar 2022.] https://www.weforum.org/events/the-davos-agenda-2022
2. Oxfam International. Inequality kills. The unparalleled action needed to combat unprecedented inequality in the wake of COVID-19. [Online] 17. Januar 2021. https://www.oxfam.de/system/files/documents/inequality_kills_en_web.pdf
3. Oxfam Deutschland. Gewaltige Ungleichheit. Warum unser Wirtschaftssystem von struktureller Gewalt geprägt ist und wie wir es gerechter gestalten können. [Online] 17. Januar 2022. https://www.oxfam.de/system/files/documents/oxfam_factsheet_gewaltige_ungleichheit.pdf
4. Deutscher Paritätischer Wohlfahrtsverband Gesamtverband e.V. Armut in der Pandemie. Der Paritätische Armutsbericht 2021. [Online] 16. Dezember 2021. https://www.der-paritaetische.de/fileadmin/user_upload/Schwerpunkte/Armutsbericht/doc/broschuere_armutsbericht-2021_web.pdf
5. Auswärtiges Amt. Deutschlands Einsatz gegen Covid-19. [Online] 7. Januar 2022. https://www.auswaertiges-amt.de/de/aussenpolitik/themen/gesundheit/covax/2395748
6. Our World in Data. Coronavirus (COVID-19) Vaccinations. [Online] [Zitat vom: 17. Januar 2022.] https://ourworldindata.org/covid-vaccinations
7. Dreyling, Justus. Was hinter dem TRIPS Waiver steckt. Netzpolitik.org. [Online] 7. Mai 2021. https://netzpolitik.org/2021/streit-um-impfstoff-patente-was-hinter-dem-trips-waiver-steckt/
8. Ettel, Anja. Der Streit um die Impfstoffpatente geht in die nächste Runde. WELT. [Online] 15. Januar 2021. https://www.welt.de/wirtschaft/article236261408/Impfstoffpatente-WTO-streitet-ueber-moegliche-Freigabe.html
9. ZDF - heute. Keine Impfstoffpatente freigeben. Schulze will Impfstoffproduktion forcieren. [Online] 16. Januar 2022. https://www.zdf.de/nachrichten/politik/corona-schulze-entwicklungslaender-100.html
10. manager magazin . Biontech steht für fast ein Fünftel des deutschen Wirtschaftswachstums. [Online] 14. Januar 2022. https://www.manager-magazin.de/unternehmen/tech/biontech-steht-fuer-fast-ein-fuenftel-des-deutschen-wirtschaftswachstums-a-1ffe0361-3afe-4e2d-9e2a-b989c9c17067
11. Zeit-Online. Keine Lösung im Streit um Patente für Impfstoffe. [Online] 4. Februar 2021. https://www.zeit.de/wirtschaft/2021-02/coronavirus-impfstoffe-patentschutz-aufhebung-welthandelsorganisation#comments
12. Schmidt, Louisa;. Omikron-Impfstoff kommt - für die fünfte Welle aber wohl zu spät. WDR-Nachrichten. [Online] 13. Januar 2022. https://www1.wdr.de/nachrichten/produktion-omikron-impfstoff-biontech-100.html
13. Eisenring, Christoph. Milliardäre gegen den Rest der Welt? Weshalb das Kesseltreiben von Oxfam gefährlich ist. Neue Zürcher Zeitung. [Online] 17. Januar 2022. https://www.nzz.ch/wirtschaft/oxfam-studie-gefaehrliches-kesseltreiben-gegen-milliardaere-ld.1664753
14. Brand, UIrich; Wissen, Markus;. Imperiale Lebensweise. Zur Ausbeutung von Mensch und Natur im globalen Kapitalismus. München : Oekom, 2017. ISBN: 978-3-86581-843-0
Grenzlandgruen - 20:18 @ Allgemein, Akteure und Konzepte, Umwelt und Gesundheit, Infrastrukturen und Daseinsvorsorge | Kommentar hinzufügen
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