Montag, 5. Oktober 2020 - zuletzt bearbeitet am 12.2.2021
Mehr Wohnbauland am Rhein: Über Freiräume und entfesselte Landnahmen
„Mehr Klimaschutz“, „Mehr preiswerte Wohnungen“, „Mehr Nachhaltigkeit“. Das waren drei Forderungen, die die meisten Kommunalwahlkämpfer*innen im Grenzland teilten. Wie wird daraus „vor Ort“ handfeste Kommunalpolitik entstehen? Ob Landesentwicklungsplan, Baugesetzbuch, Regionalplan, ob Förderprogramme und Baulandmobilisierung: die Städte und Gemeinden sollen es richten. Der Handlungsspielraum für Nachhaltigkeit ist in den letzten Monaten ebenso gewachsen wie der kommunale Handlungs- und Verantwortungsdruck. Die Mehrheit der Landes- und Regionalpolitiker*innen hat in den zurückliegenden Monaten komplexe raumordnerische Nachhaltigkeitsabwägungen auf die Städte und Gemeinden verlagert. „Global denken und lokal handeln“: Im Spannungsfeld zwischen Wohnungsbau und Klimaschutz kann die Forderung nach mehr Nachhaltigkeit Chance und Bürde für die kommunale Planungshoheit werden. Globale und europäische Nachhaltigkeitsziele verpflichten die Kommunen, ihre Siedlungsentwicklung in Freiräumen strikt zu begrenzen und den Boden schützen. Die Fächenneuinspruchnahme soll europaweit bis 2050 beendet sein. Gleichzeitig sollen die Kommunen - gerade in den Städten mit Wachstumsdruck - bezahlbaren Wohnraum für alle Haushalte bereithalten. Daten für eine belastbare Bedarfsberechnung sind rar. Der Flüchtlingszuzug von 2015 hat Fortschreibungen verfälscht. Corona, Kriege und Erderhitzung sorgen für eine Dynamisierung der Lage...
Wozu brauchen wir Freiräume?
Sie verschaffen uns keinen unmittelbaren wirtschaftlichen Nutzen, tun uns aber meistens gut. Denn sie helfen uns dabei, zu regenerieren, Kraft zu tanken und Ideen zu entfalten. Sie stärken unseren Eigensinn und unsere Lebenslust. Daher neigen wir dazu, sie zu schützen. Die Rede ist von unseren zeitlichen, sozialen und geografischen Freiräumen. Sie unterliegen der kapitalistischen Landnahme. Unter diesem Begriff erörterten unterschiedliche Denkerinnen und Denker wie Karl Marx, Pierre Bourdieu, Rosa Luxemburg, Hannah Ahrendt oder in neuerer Zeit Klaus Dörre die Folgen und Funktionen eines Grundprinzips unseres Wirtschaftssystems: aus allem Geld zu machen und das Denken, Handeln, Fühlen darauf auszurichten.
Aufgabe der Politik ist es einerseits, uns fit für dieses System zu machen, indem es mit Freiraumversprechen unsere Arbeitsdisziplin, unser Wettbewerbsdenken und unsere Konsumfreudigkeit fördert. Andererseits muss Politik der kapitalistischen Landnahme Grenzen setzen, um menschliche und natürliche Freiräume zu schützen.
Erst die mit der Industrialisierung verbundenen ökologischen und verkehrlichen Fehlentwicklungen haben uns den unschätzbaren Wert des Freiraums bewusst gemacht. Ohne Freiräume kann Wirtschaft nicht funktionieren. Nachhaltigkeit beschäftigt sich damit, wie man den wirtschaftlichen Drang nach Einschränkung der Freiräume so begrenzen kann, dass ein gutes Leben für alle dabei rauskommt.
Auch in der Flächen- und Raumplanung genießt der Freiraumschutz hohe Priorität. Er gehört zu den Grundsätzen der Raumplanung; „Der Freiraum ist durch übergreifende Freiraum-, Siedlungs- und weitere Fachplanungen zu schützen; es ist ein großräumig übergreifendes, ökologisch wirksames Freiraumverbundsystem zu schaffen. Die weitere Zerschneidung der freien Landschaft und von Waldflächen ist dabei so weit wie möglich zu vermeiden; die Flächeninanspruchnahme im Freiraum ist zu begrenzen.“ So steht es im §2 Abs. 2 des Raumordungsgesetzes.
Der Begriff Freiraum ist in der Fachwelt nicht eindeutig und abschließend definiert. Landes- und Regionalplaner*innen verwenden ihn als Gegenteil zum Siedlungs- und Verkehrsraum. Architekten und Architektinnen benutzen ihn als Sammelbegriff für alles, was nicht bebaut ist. Häufig wird Freiraum und Freifläche gleichgesetzt. Planerischer Freiraum kann durch Forst- und Landwirtschaft kommerziell genutzt werden. Freiräume sind multifunktional. Sie dienen Menschen, Tieren und Pflanzen zum Leben, speichern CO2, sorgen für Grundwasserneubildung, tragen zur menschlichen Gesundheit bei, beherbergen Rohstoffe, sichern Lebensmittelversorgung, biologische Vielfalt und Lufthygiene. Sie spielen eine große Rolle für Anpassungsstrategien an die Erderhitzung.
Mülldeponien, Rohstoffabbau, Windenergieanlagen, Straßen, Schienen, Neubaugebiete …der Verlust oder die Schmälerung der Freiraumqualität bieten immer häufiger Anlass für Streitigkeiten und die Gründung von Bürgerinitiativen. Aufgabe der Raumplanung ist es, wirtschaftliche, ökologische und soziokulturelle Entwicklungspotenziale zu sichern und entsprechende Defizite auszugleichen. Werden überlebenswichtige Funktionen der Freiräume und Entwicklungspotenziale für wildlebende Arten, Gewässersysteme, Auen, Kaltluftschneisen, Landwirtschaft gefährdet, ist ein Ausgleich durch wirksame Biotopverbünde und Lebensraumvernetzungen herbeizuführen. Verbünde und Vernetzungen zu planen, ist originäre Aufgabe größerer Verwaltungseinheiten.
Boden ist systemrelevant, essenziell für unser Leben. Er ist Grundlage für Fabriken, Logistikhallen, Häuser, Straßen, Schienen, Gärten, Sport- und Spielplätze, Schulen, Theater oder Fußballarenen. Boden sorgt für unser Essen und Trinken, schützt unser Wasser, speichert schädliche Klimagase, betreibt einen perfekten Cradle to Cradle – Kreislauf. Die Zahl der Lebewesen in einer Handvoll Boden übertrifft die der Weltbevölkerung. Doch niemand hat bisher genau durchschaut, wie die Tiere, Pflanzen, Bakterien oder Pilze zusammenarbeiten. Der unterirdische Kosmos ist hochkomplex und bis heute wenig erforscht. Bodenkunde ist eine komplizierte interdisziplinäre Wissenschaft. Deren Lehrstühle wurden in der Vergangenheit abgebaut. Selbst zum Regenwurm haben die Menschen noch zahlreiche Wissenslücken. Wir erleben derzeit, wie wichtig wissenschaftliches Grundlagenwissen für politische Entscheidungen ist. Bodenkundliche Forschungsgelder gibt es derzeit allerdings am ehesten für eine Biotechnologie, die von Bodenmikroben die Inspiration für neue Produkte und nachhaltiges Wirtschaftswachstum erhofft.
Den Freiraum zu sichern heißt Flächen für Wohnen, Gewerbe, Verkehr zu begrenzen und ein Wirtschafts- und Wohlstandswachstum zu fördern, das nachhaltig ist, also Freiraumfunktionen nicht weiter einschränkt. Böden sind eine begrenzte Ressource. Sie müssen geschützt und entwickelt werden. Versiegelungen sind möglichst zu vermeiden. Das ist weltweiter Konsens. Das Weltnachhaltigkeitsziel Nr. 15 umschreibt den Erhalt, die Wiederherstellung und nachhaltige Nutzung der Landökosysteme, besonders der Wälder, Berge, der Feucht- und Trockengebiete. Ökosystem- und Biodiversitätswerte sollen in alle Planungen einbezogen und geschädigte Wälder wiederhergestellt werden. 2011 veröffentlichte die Europäische Kommission ihren Fahrplan für ein ressourcenschonendes Europa. In ihm geht es darum, die „Landnahme so zu reduzieren, dass bis 2050 netto kein Land mehr verbraucht wird“ (S.18). In den entsprechenden Leitlinien weist sie der Raumplanung eine Schlüsselrolle zu. Dabei habe Begrenzung „immer Vorrang vor Milderungs- oder Kompensationsmaßnahmen, da die Bodenversiegelung ein nahezu irreversibler Prozess ist.“ (S.25)
Der EU-Aktionsplan für die Kreislaufwirtschaft vom März 2020 verspricht auf Seite 13 eine „Förderung von Initiativen zur Verringerung der Bodenversiegelung‚ zur Sanierung stillgelegter oder kontaminierter Brachflächen und zur Verbesserung der sicheren, nachhaltigen und kreislauforientierten Nutzung von ausgehobenen Böden.“
Der deutsche „Klimaschutzplan 2050“ bekräftigt das Ziel Flächenkreislaufwirtschaft: „Der Anstieg der Siedlungs- und Verkehrsfläche (Flächenverbrauch) soll im Einklang mit der nationalen Nachhaltigkeitsstrategie bis 2020 auf 30 Hektar pro Tag reduziert und danach weiter gesenkt werden, so dass spätestens bis zum Jahr 2050 der Übergang zur Flächenkreislaufwirtschaft erreicht ist und, in Übereinstimmung mit dem „Fahrplan für ein ressourceneffizientes Europa“ der EU, „nettonull“ beträgt.“ (S.67f)
„Um dies zu erreichen, müssen sich aber auch die Bundesländer sowie Städte und Gemeinden konkrete Flächensparziele setzen.“ Darauf hat der NABU am 30-Hektar-Tag hingewiesen und ein Grundsatzprogramm zum Planen und Bauen in Deutschland veröffentlicht. Bereits vor 15 Jahren hatte sich die BUND-Arbeitsgruppe „Zukunftsfähige Raumnutzung“ unter der Überschrift „Boden gut machen“ mit den Wegen zu einer Flächenkreislaufwirtschaft auseinandergesetzt.
Auch die Bundesregierung sucht nach Alternativen zur Flächenversiegelung. Sie „wird unter anderem die einschlägigen Planungsinstrumente weiterentwickeln sowie die Implementierung neuer Instrumente prüfen.“ Das kündigt sie auf Seite 72 des Klimaschutzplans an.
Der verantwortungsvolle Umgang mit den globalen Boden- und Flächenressourcen ist ein wesentliches Element der "Sustainable development goals" und der deutschen Nachhaltigkeitsstrategie.
Zielkonflikte bei der Baulandausweisung
Bezahlbarer, angemessener Wohnraum ist ein Menschenrecht. Ein gesunder Boden ist die Grundlage des menschlichen Lebens. Investor*innen schätzen die Wohnungs- und Bodenmärkte - auch wegen ihrer gewinnbringenden Spekulationsmöglichkeiten. Grund und Boden sind knapp und nicht vermehrbar. Baulandausweisung ist im Ergebnis nicht viel mehr als ein Klecks auf der Landkarte, findet aber in einem komplexen System statt.
Während hier Wohnungsnot herrscht, gibt es dort Leerstand. Viele Menschen träumen vom großzügigen Einfamilienhaus im Grünen. Die Möglichkeiten der sicheren Altersvorsorge sind begrenzt. Immer mehr Alten wird ihr zu großes Haus zur Last. Einkommensstarke Bürger*innen tragen zum stabilen Kommunalhaushalt bei. Bauland steigert den Bodenpreis und mindert die ökologischen Bodenfunktionen. Das gilt womöglich auch für Agrarland und die industrielle Landwirtschaft. Flächen sind knapp. Deren Nutzung ist eine soziale Konstruktion. Was dem einen sein Grundstück, ist dem anderen das zu überplanende Gebiet und dem dritten das Element des Biotopverbunds.
Fläche ist Wirtschaftsgut und Umweltressource. Für Industrieansiedlungen, Rohstoffe, Energieerzeugung und Lebensmittelversorgung gibt es einen „globalen Flächenmarkt“. Landgrabbing und virtueller Flächenimport bedeuten eine massive Verschiebung der Landfunktionen und Besitzverhältnisse. Die Gemeinsame Europäische Agrarpolitik befeuert den Trend mit flächenbezogenen Subventionen. Flächen für Wohnen, Verkehrswege und Naturhaushalt können nicht importiert werden. Wohnen und Umweltschutz sind die Bereiche des Lebens, von denen die meisten Menschen nicht glauben, dass der Markt alles regeln kann und soll.
Umwelt- und Wohnungspolitik gehören daher zu den Schlüsselfaktoren politischer Glaubwürdigkeit. Damit erhält die Bodennutzungspolitik eine besondere Bedeutung. Flächenplanung steht im konfliktreichen Spannungsfeld zwischen Natur, Recht und Märkten.
Das ist – grob umrissen – das Spielfeld für Baulandausweisungen. Dort gibt es Zielkonflikte und Nachhaltigkeitsregeln. Die Projekte müssen sinnvoll sein. Ihre Auswirkungen auf Mensch und Natur müssen sorgfältig geprüft und abgewogen werden. Evtl. Schäden müssen ausgeglichen werden. Wirtschaftlichkeitsberechnungen, Untersuchungen und Recherchen sind erforderlich.
Eine den Grundprinzipien der Demokratie und der nachhaltigen Entwicklung folgende Baulandausweisung kostet Zeit. Die haben die Planer*innen in NRW seit dem Sommer 2017 nicht mehr. NRW soll Nr. 1 im europäischen Standortwettbewerb werden und geht dazu mit politischen Beschleunigungs- und Entfesselungspakten einen eigenen Weg.
Lindner-Effekt und kommunale Raumplanung
Seit dem Sommer 2017 haben sich die Parameter für die regionale und kommunale Raumplanung in NRW verschoben. Eine Ursache: Christian Lindner. Zu seinen größten politischen Erfolgen gehört die NRW-Wahl am 14. Mai 2017. Als Spitzenkandidat für Nordrhein-Westfalen gewann er 12,6% der Stimmen. Dadurch konnten CDU und FDP mit einer Stimme Mehrheit eine Landesregierung bilden. Die meisten Parteistrategen hatten zuvor mit einer Koalition aus SPD und CDU gerechnet. Der zügig ausgehandelte NRW-Koalitionsvertrag trug deutlich die Handschrift von Christian Lindner, Johannes Vogel, Joachim Stamp, Christof Rasche, Andreas Pinkwart und Yvonne Gebauer. Wichtiges Ziel: Entfesselung einer von „ökologischen Begrenzungen“ befreiten - NRW-Wirtschaft. Rot-grüne Leitplanken für eine nachhaltige Entwicklung sollten so schnell wie möglich wieder entfernt werden.
Innovation und Wirtschaftsfreundlichkeit gehe nur mit verkehrsmäßig erstklassig angebundenen, und schnell verfügbare Flächen“ (S.25). Freiraumschutz rufe ungleichwertige Entwicklungschancen zwischen ländlichen Regionen und Ballungsräumen hervor. Die Koalition fordert die Kommunen zum Ausgleich einer angeblich durch Natur- und Freiraumschutz erzeugten ungleichwertigen Entwicklung zwischen ländlichen Regionen und Ballungsräumen auf und verspricht: „Dazu werden wir unseren Kommunen Flexibilität und Entscheidungskompetenzen bei der Flächenausweisung zurückgeben.“ (S.35)
Den im Raumordnungsgesetzes verankerten Grundsatz der Nachhaltigkeitsabwägung setzt die Regierung im Koalitionsvertrag aus: „Zum Erhalt unserer Wertschöpfungsketten sowie zur Sicherung und Schaffung von Arbeitsplätzen muss die Landesplanung Standortsicherung und Standortentwicklung durch die Bereitstellung und Bevorratung von Flächen zur gewerblichen und industriellen Nutzung ermöglichen. (..) Den Ansiedlungsschutz von Bereichen für gewerbliche und industrielle Nutzung wollen wir stärken.“ (S.35)
Die Entwicklung neuer Natur- und Landschaftsschutzgebiete schließen CDU und hingegen aus: „Anstelle der Ausweisung neuer Schutzflächen wollen wir vorrangig bestehende Flächen qualitativ aufwerten.“ (S.35) Dazu werden „innovative Ansätze“ und ein „Punktesystem zur ökologischen Aufwertung“ benötigt. „Unnötige Hemmnisse“ zur Ausweisung von Bauland sollten aus dem Landesentwicklungsplan entfernt und der Flächenverbrauch durch „moderne Flächenmanagementsysteme wie Zertifikathandel und Flächenpools“ minimiert werden.
Den für NRW der deutschen Nachhaltigkeitsstrategie angepassten Schwellenwert für das tägliche Siedlungs- und Verkehrsflächenwachstum von maximal fünf Hektar empfanden die Koalitionäre als ein die Wirtschaftsentwicklung hemmendes Korsett. Derzeit gehen täglich etwa acht bis zehn Hektar Freiraum durch neue Wohn- und Gewerbegebiete, Straßenbau, Kiesabbau und andere Abgrabungen unwiederbringlich verloren
Den nach langem Diskussionsprozess im Februar 2017 rechtskräftig gewordenen rot-grünen Landesentwicklungsplan „konkretisierte“ Landesminister Andreas Pinkwart im April 2018 zunächst per Erlass, um - die Bereitstellung und Bevorratung von Flächen für Gewerbe, Industrie und Wohnungsbau zu erleichtern.
Mittlerweile sind die Ankündigungen des Koalitionsvertrags umgesetzt. Am 12. Juli 2019 änderten die CDU- und FDP-Landtagsabgeordneten den Landesentwicklungsplan. Die Fünf- Hektar Grenze gilt nicht mehr.
Laut Plenarprotokoll 17/64 Landesminister Andreas Pinkwart (FDP) versprach an diesem Tag „kluge Anreize für einen sparsamen Flächenverbrauch“, an denen seine „geschätzte Kollegin Frau Heinen Esser“ arbeite. (S.17)
Den Flächenverbrauch eindämmen
Ihre „klugen Anreize“ veröffentlichte Umweltministerin Ursula Heinen-Esser am 16. September 2020. Die Eckpunkte für ein entsprechendes Maßnahmenpaket zur weiteren Eindämmung des Flächenverbrauchs umfassen dreieinhalb DIN A 4-Seiten und sind mit dem Kabinett abgestimmt. Um den Straßenbau zu erleichtern, empfehlen sie flexibel Flächen für Ausgleichsmaßnahmen zu bevorraten. Da angeblich keine aussagekräftigen Statistiken zu den Ursachen des Verlusts landwirtschaftlicher Flächen vorliegen, will Heinen-Esser Flächenströme untersuchen lassen.
Die Landesregierung strebt einen Flächenzertifkatehandel zwischen schrumpfenden und wachsenden Kommunen an und möchte dazu rechtliche Grundlagen, Marktauswirkungen und Möglichkeiten der Digitalisierung untersuchen lassen.
Angekündigt werden ein landesweites Brachflächenkataster, Fördermaßnahmen zur Sanierung kontaminierter Industriebrachen, ein Diskurs über mehrgeschossige Logistikbauten, ein Konzept für grüne Infrastruktur oder ein landesweites Brachflächenkataster. Auch über einen regionalen Flächenpool will sich Landesregierung Gedanken machen.
Landwirtschaft und Naturschutz reagierten prompt auf die Veröffentlichung des Maßnahmenpakets. Der Rheinische Landwirtschaftsverband begrüßte die Initiative der Landwirtschaftsministerin, verwies aber gleichzeitig darauf, dass IT.NRW einen Verlust von 551 Quadratkilometern landwirtschaftlicher Fläche zwischen 2005 und 2015 errechnet hat. Die Naturschutzverbände sahen das Maßnahmenpaket als „Placebo“ und „zahnlosen Tiger“ und kreideten der schwarz-gelben Landesregierung an, mit ihren landesplanerischen Vorgaben dem Flächenfraß und Biodiversitätsverlust Vorschub zu leisten.
In ihrem Eckepunktepapier verweist Ursula Heinen-Esser auf die Landesinitiative „Bau.Land.Leben“.
Innen- vor Außenentwicklung: Was will Bau.Land.Leben?
Unter dieser Überschrift bündelt das Ministerium für Heimat, Kommunales, Bau und Gleichstellung die Angebote, mit denen das Land NRW Kommunen und Grundstückseigentümer*innen bei der Aktivierung von bereits ausgewiesenem Bauland und bei der gezielten Entwicklung von Bauland in der Nähe von Haltestellen des schienengebundenen Personennahverkehrs unterstützt. Die Nachfrage nach diesen Hilfsangeboten hat „noch Luft nach oben“. Ähnliches gilt auch für den Verband Flächenrecycling und Altlastensanierung (AAV) . Dessen Projekte zeigen, dass sich Anstrengungen zu Sanierung kontaminierter Flächen lohnen können.
Daher will die Landesregierung kommunale Akteure zu Innenentwicklungsmanagern qualifizieren. Viele Kommunen weisen immer noch neues Bauland für „marktgerechte Einfamilienhäuser“ auf der grünen Wiese aus. Auf der Strecke bleibt der - von den regionalen Planer*innen seit mehr als einem Jahrzehnt geforderte - ortskernnahe und bezahlbare Wohnraum für Ein- und Zweipersonenhaushalte.
Dabei haben die Kommunen mit einem bisher unerforschten Phänomen zu tun: dem Bauüberhang. Die Zahl der genehmigten, aber noch nicht fertiggestellten Wohnungen hat in Deutschland in den letzten Jahren stetig zugenommen. Der Bauüberhang umfasste nach Angaben des Bundesinstituts für Bau- Raum- und Stadtforschung Ende des Jahres 2019 rund 740.000 Wohnungen und damit mehr als doppelt so viel wie zehn Jahre zuvor.
In den letzten Jahren sorgt der anwachsende Bauüberhang für Diskussionen. Hierbei werden Vermutungen unter anderem zu Spekulationsabsichten, zu Verzögerungen im Bauablauf aufgrund ausgelasteter Kapazitäten der Bauwirtschaft oder aufgrund nachbarschaftlicher Einsprüche geäußert. Seit November 2020 erstellt das BBSR eine flächendeckende Analyse zur Struktur und den Gründen des Bauüberhangs in Deutschland.
Nach wie vor gibt es kein regelmäßiges und vergleichbares Baulandmonitoring in Deutschland. Eine seriöse und regelmäßig aktualisierte Übersicht über Innenentwicklungspotenziale in den Kommunen gibt es - bis auf einige regionale und örtliche Ausnahmen - nicht. Mit dem im Dezember 2019 begonnenen Forschungsprojekt "Baulandumfrage 2020 – Bundesweit repräsentative Stichprobe zu Bauland- und Innenentwicklungspotenzialen" will das BBSR belastbare Grundlagendaten für ein zukunftsgerechtes und digitalisiertes Flächenmanagement erfassen. Es geht um eine Übersicht, um Stand und Methoden der Baulanderfassung und –mobilisierung sowie um Folgekosten der Flächenentwicklung.
Die Auseinandersetzung mit Leerständen, Brachflächen und Baulücken gilt immer noch als mühsam. Den Kommunen fehlt das Personal, das sich sachkundig, zeitintensiv und risikoreich mit Grundstücksspekulation, kleinteiligen und veralteten Baustrukturen, einem absurden Bodenrecht, mit unwilligen Nachbarn oder der mühsamen Beseitigung von Kontaminationen beschäftigen kann und will. Die vor der Kommunalwahl zum Beispiel in Schwalmtal aufgeflammten Diskussionen um Wohnen auf dem Rösler-Gelände sind nicht untypisch. Eine Bürgerinitiative, die offenbar trotz eines gültigen Bebauungsplans in Waldniel nicht ohne Erfolg neue Sozialwohnungen verhindern kann, gibt es auch in anderen Quartieren in Düsseldorf, Krefeld, Mönchengladbach, Remscheid, Solingen und Wuppertal sowie in den Städten und Gemeinden der Kreise Neuss, Kleve, Mettmann und Viersen. Sie alle gehören zur Planungsregion Düsseldorf.
Regionalrat: Neues Bauland für kommunale Spielräume
Die Planungsregion Düsseldorf gilt mit ihren knapp 3,3 Millionen Einwohner*innen auf 363.801 Hektar als besonders wirtschaftsstark und „extrem verdichtet“ – trotz der unterschiedlichen Siedlungsstrukturen aus Großstädten und eher ländlich geprägten Kommunen. Den in der Planungsregion verbliebenen Freiraum beschreibt die Bezirksregierung in der Begründung zur ersten Änderung des Regionalplans als „eine besonders knappe, in vielerlei Hinsicht wertvolle und deshalb unbedingt zu schützende Ressource.“(S.7)
Den Kommunen der Region fiel es in der Vergangenheit nicht leicht, den für 111.950 neue Wohnungen im Regionalplan planerisch angelegten Vorrat an Siedlungsflächen in baureife Grundstücke umzuwandeln, weil Grundeigentümer*innen, Nachbarn oder das Gelände nicht mehr „mitspielen“ wollen. Für potenzielle Investoren sind die „schwierigen“ Flächen nicht besonders attraktiv.
In der Region wird weniger gebaut als die Regionalplaner*innen erwartet hatten. Immer weniger Sozialwohnungen stehen zur Verfügung. Siedlungsdruck gibt es in Düsseldorf, im Rhein-Kreis Neuss und im Kölner Einzugsgebiet. Grund: Arbeitsmigration als Folge einer florierenden Wirtschaft.
Doch nicht nur in Düsseldorf wächst der Widerstand gegen Baugebiete. Der Flächenverbrauch ist paradoxerweise bundesweit umso höher, je geringer die Bevölkerungsdichte und je schlechter die Erreichbarkeit sind. Kommunen in peripheren suburbanen und ländlichen Räumen „verbrauchen“ ihre Flächen überproportional. Ihre Erwartung durch Bereitstellung von Bauland und Gewerbeflächen die Haushaltsbilanz zu verbessern, wird nicht immer erfüllt.
Die von der Düsseldorfer Bezirksregierung regelmäßig als „Datenmosaik“ veröffentlichten Vergleichsdaten der Städte und Gemeinden zeigen: Freiflächenverlust hat wenig mit der tatsächlichen Einwohnerzahl zu tun. Zwischen 2003 und 2017 schrumpfte in vielen Fällen selbst bei rückläufigen Einwohnerzahlen der für jeden Einzelnen zur Verfügung stehende Freiraum. Bevölkerungsentwicklung und Flächenverbrauch sind entkoppelt.
Kommune | Einwohner 2003 | Einwohner 2017 | Saldo | Hektar Freifläche 2003 | Hektar Freifläche 2017 | Saldo zwischen 2003 und 2017 in ha |
Brüggen | 16.043 | 15.681 | -362 | 5.053 | 5.054 | -1 |
Grefrath | 16.041 | 14.798 | -1.243 | 2.373 | 2.321 | -52 |
Kempen | 36.258 | 34.711 | -1.547 | 5.285 | 5.169 | -116 |
Nettetal | 42.390 | 41.812 | -578 | 6.293 | 6.164 | -129 |
Niederkrüchten | 15.297 | 15.218 | -79 | 5.382 | 5.150 | -232 |
Schwalmtal | 19.407 | 19.009 | -398 | 3.840 | 3.785 | -55 |
Tönisvorst | 30.370 | 29.286 | -1.084 | 3.380 | 3.313 | -67 |
Viersen | 76.603 | 76.586 | -17 | 6.248 | 6.070 | -178 |
Willich | 51.534 | 51.179 | -355 | 4.700 | 4.522 | -178 |
Kreis Viersen | 303.943 | 298.733 | -5.210 | 42.553 | 41.548 | -1.005 |
Regierungsbezirk | 5.245.132 | 5.198.820 | -46.312 | 361.327 | 346.865 | -14.462 |
Düsseldorf | 572.511 | 617.280 | 44.769 | 8.975 | 8.446 | -529 |
Mönchengladbach | 262.391 | 262.188 | -203 | 9.265 | 8.544 | -721 |
Kreis Kleve | 305.599 | 311.270 | 5.671 | 105.699 | 101.874 | -3.825 |
Kreis Mettmann | 507.164 | 485.409 | -21.755 | 25.209 | 24.247 | -962 |
Rhein-Kreis Neuss | 446.308 | 449.408 | 3.100 | 40.216 | 36.502 | -3.714 |
Wer im Wahlkampf neuen Wohnraum verspricht, muss zumindest sagen können, wo und wie er entstehen soll. Das ist nicht einfach, wenn Boden als handelbare Ware gilt, die Bauindustrie ausgelastet ist und der Geldmarkt keine Zinsen verspricht.
Spekulation führt zu Bauland, das Eigentümer*innen nicht bebauen wollen und zu Wohnraum, der einfach nur leer steht, obwohl viele Menschen nach einer bezahlbaren und bedürfnisgerechten Wohnung suchen. Diesen Widerspruch gibt es nicht nur in den großen Städten, sondern auch auf dem Land.
Spätestens am 16. Juni 2017 war den Düsseldorfer Regionalakteuren klar: Der Regionalplan muss politische Veränderungswünsche einpreisen.
Im Koalitionsvertrag kündigten CDU und FDP an, die - erst im Februar 2017 in Kraft getretenen - landesplanerischen Vorgaben zum Freiraumschutz wieder zur Disposition stellen. Ein kommunaler Vorrat an Siedlungsflächen, der schnell und ohne großen Aufwand in Baugrundstücke verwandelt werden können, sollte politischen Spielraum für mehr Wohnungsbau verschaffen.
Es war daher folgerichtig, dass Hans-Hugo Papen, CDU-Fraktionsvorsitzender im Düsseldorfer Regionalrat, bereits bei der Aufstellung des Regionalplans am 14. Dezember 2017 Änderungsbedarf ankündigte: weniger Flächen für Windenergie, mehr Flächen für den Wohnungsbau…
Im Mai 2018 begann die regionale Planungsbehörde unter Federführung von Christoph van Gemmeren mit den Vorbereitungen zur ersten Planänderung. Am 25. Juni 2020 fasste der Regionalrat den offiziellen Aufstellungsbeschluss zu „Mehr Wohnbauland am Rhein“.
Grundlage waren zunächst Kommunalgespräche und zwei Erwartungen, die sich erst am 12. Juli 2019 erfüllten: die - unter Berücksichtigung des Flüchtlingszuzugs von IT.NRW-herausgegebene - Bevölkerungsvorausberechnung und die Verabschiedung der neuen landesplanerischen Vorgaben zur Siedlungsentwicklung.
Deren Intention und Hintergrund fasste Andreas Pinkwart in seiner Landtagsrede zusammen. „Vorausberechnungen gehen davon aus, dass unser Bundesland im kommenden Jahrzehnt und in Teilen auch in den 30er-Jahren weiter wächst“.
Tatsächlich prognostizierte IT.NRW lediglich einen regional differenzierten Bevölkerungsanstieg auf 18,1 Millionen und eine rückläufige Bevölkerungsentwicklung ab 2032.
Die endgültige Streichung des „5 Hektar-Korsetts“ begründete Pinkwart gegenüber den rot-grünen Landtagsabgeordneten so: Bayern hat im Vergleich zu Nordrhein-Westfalen rund 30 % weniger Einwohner, verbraucht aber täglich 130 % mehr Fläche, als Sie es für Nordrhein-Westfalen vorgegeben haben. Das sage ich nur, damit wir einmal einordnen, worüber wir sprechen und welche Denkverbote Sie sich selbst gesetzt haben.“
Drei Tage nach Pinkwarts Rede beschloss das bayerische Kabinett einen umfangreichen Maßnahmenkatalog zu einer Flächensparoffensive und kündigte an, ein 5 Hektar Ziel ins bayerische Landesplanungsgesetz aufzunehmen.
Regionalplanung koordiniert und gestaltet auf der Grundlage des Landesentwicklungsplans. Das nordrhein-westfälische Landesplanungsgesetz legt im §18 Abs. 1 fest, dass Regionalpläne den geänderten Zielen der Raumordnung im Landesentwicklungsplan anzupassen sind. – Das Raumordnungsgesetz verpflichtet die Regionalplanung im § 2 Abs. 2 die nachhaltige Daseinsvorsorge zu sichern, nachhaltiges Wirtschaftswachstum und Innovation (…) zu unterstützen, Entwicklungspotenziale zu sichern und Ressourcen zu schonen.
Die derzeitige NRW-Variante der Emanzipation von Ökologie, Naturgesetzen und Demut trägt nicht dazu bei, das regionalplanerische Dilemma zu lösen. Das Dilemma besteht aus Zielkonflikten, Unsicherheiten, unbestimmten Rechtsbegriffen, aus kommunal unterschiedlichem Siedlungsdruck, aus Schrumpfungsszenarien und unrealistischen Wachstumserwartungen, einem Standortwettbewerb und mangelnder Baulandausweisung, ohne der Natur vorschreiben zu können, was sie tun und lassen hat.
In der Diskussion um „Mehr Wohnbauland am Rhein“ gab es daher zwei Herangehensweisen. Während die Regionalratsgrünen versuchten, größtmögliche Verbindlichkeit beim Freiraumschutz und der Begrenzung der Siedlungsgebiete durchzusetzen, argumentierten die anderen Akteure von Anfang an mit der kommunalen Planungshoheit.
Planungsausschussvorsitzender Michael Hildemann in der Regionalratsitzung am 27. Juni 2019: „Der Regionalrat ist ein Instrument der Raumordnung. Das heißt wir machen ein Angebot, wir testen vorher ab, was grundsätzlich möglich und wünschenswert ist. Danach ist die Kommune am Zug und ist Herr des Verfahrens. Wir kennen das berühmte Beispiel aus Meerbusch, wo alle „sinnvoll“ sagen würden, aber die Kommune macht es nicht.“
Mit diesem Laisser-faire Verständnis verzichtet Regionalplanung auf einen verbindlichen Rahmen für eine nachhaltige Siedlungsentwicklung. Stattdessen unterbreitet sie den Kommunen mit rund 100 Flächensteckbriefen ein flexibles Angebot und ein Signal für mehr Wohnungsbau.
Die Hinweise auf mögliche Umweltauswirkungen dienen nicht mehr der regionalen Abwägung, sondern gelten jetzt als eine Serviceleistung, die kommunale Planer*innen für ihre eigenen Nachhaltigkeitsabwägungen bei der Aufstellung von Bebauungsplänen ertüchtigen sollen. Wo, wie und wann die Kommunen den errechneten Bedarf von 158.700 zusätzlichen Wohneinheiten bis 2040 erfüllen, ist ihnen selbst überlassen.
Regierungspräsidentin Birgitta Radermacher hat angekündigt, keine Anweisungen zur kommunalen Umsetzung der ersten Regionalplanänderung erteilen zu wollen. Flächenrücknahmen bei „kommunaler Überbevorratung“ sind nicht mehr vorgesehen, dafür können Kommunen die Innenentwicklung forcieren, wenn sie die als Außenpotenzial gekennzeichneten Siedlungsflächen erst mal in die Vorratshaltung geben wollen.
Der stellvertretende Regionalratsvorsitzende Klaus-Jürgen Reese machte kurz vor der Schlussabstimmung deutlich, dass es bei dieser Regionalplanänderung nicht darum gehe, den Kommunen etwas vorzuschreiben: „Man kann’s nicht oft genug wiederholen: das was hier heute beschließen, ist eine Angebotsplanung und die Kommunen können in dem Umfang davon Gebrauch machen, wie es die tatsächliche Bevölkerungsentwicklung notwendig macht.“
Die 100 Flächensteckbriefe gelten als Angebot an die Kommunen. Die Regionalplanungsbehörde geht davon aus, dass diese Flächen sich für einen kommunalen Bebauungsplan eignen könnten. Ob und wie er gestaltet wird, welche Freiräume für welchen Wohnraum in Anspruch genommen werden und welche nicht, entscheiden jetzt die Räte in den Städten und Gemeinden. Für „Mehr Wohnbauland am Rhein“ ist der beliebte kommunale Satz „Die Bezirksregierung will das so“ obsolet. Die Verantwortung für eine nachhaltige Flächenpolitik liegt jetzt allein in kommunaler Hand.
Bodenmärkte - Wohnungsmärkte
Flächenmarkt, Landbanking, Bauland als Spardose, Käufe und Wiederverkäufe, überzogene Preisforderungen. Die geringe Rentabilität der anderen Kapitalanlagemöglichkeiten und die steigenden Bodenpreise verleiten Eigentümer*innen dazu, baureife Grundstücke spekulativ vor sich hin gammeln zu lassen. Nichtstun als lukrative Einnahmequelle. Die Regionalverwaltung umschreibt dies mit „schwierige Entwicklungsfähigkeit vieler bestehender Siedlungspotenziale“. Kommunale Planer*innen können ein Lied davon singen.
Die sozialpolitischen Errungenschaften wurden in den letzten Jahrzehnten auch auf dem Wohnungssektor immer stärker und in immer schnellerem Tempo zurückgenommen. Seit dem Beginn der großen Krise 2008 gehören auch die Berichte über Austreibungen von verschuldeten Menschen aus ihren Häusern und Wohnungen fast schon zum Alltag. Wohnen macht wieder arm, während die Profite der Eigentümer*innen großer Wohnungsgesellschaften steigen. Dies ist auch die Folge der massenhaften Privatisierung von kommunalen Wohnungsgesellschaften und von Werkswohnungen. Sie hat sich heute als Fehler herausgestellt.
Unter dem Stichwort „Baulandmobilisierung“ oder „Baulandmanagement“ erhalten Kommunen Tipps zur Anwendung städtebaulicher Entwicklungsmaßnahmen oder anderer Instrumente der Bodenordnung. Der Münchner Aufruf für eine andere Bodenpolitik stellte 2017 fest: „Der entfesselte Bodenmarkt entfaltet eine zersetzende Wirkung auf den sozialen Zusammenhalt der Stadtgesellschaft.“ Die grundgesetzlich garantierte Gemeinwohlbindung müsse gestärkt werden.
Gefordert werden Erbbaupacht, Bodenwertsteuer oder eine Ausweitung kommunaler Vorkaufsrechte. Die Bodenpoltische Agenda 2020 – 2030 des Deutschen Instituts für Urbanistik begründete 2017, „warum wir für eine nachhaltige und sozial gerechte Stadtentwicklungs- und Wohnungspolitik eine andere Bodenpolitik brauchen“. Dort heißt es: „Nachhaltige Stadtentwicklungspolitik und soziale Wohnungspolitik sind ohne eine aktive und konsistente Bodenpolitik aller administrativen Ebenen langfristig nicht umsetzbar. Die Städte und Gemeinden müssen in diesem besonderen Handlungsfeld ihre verlorene Steuerungskraft zurückgewinnen.“ Alle Entscheidungen und Maßnahmen von Bund, Ländern und Kommune, die gezielt die Nutzung, Akkumulation und Verteilung sowie die Eigentumsverhältnisse beeinflussen, erweisen sich zunehmend „als der harte Kern und der strukturelle, gesellschaftspolitische Dreh- und Angelpunkt einer sozial gerechten und nachhaltigen Stadtentwicklungspolitik.“
„Mehr Wohnbauland am Rhein“ hindert die Kommunen nicht daran, Grundstücke gemeinwohlorientiert zu vergeben, Boden- und Infrastrukturfonds einzurichten, gezielt Boden bevorraten und zwischenzuerwerben, das kommunale Vorkaufsrecht zu nutzen und bauplanungsrechliche Festsetzungen für die Innenentwicklung zu erweitern.
Das DIFU fordert zudem eine Bodenwert- und Bodenflächensteuer einzuführen, die Grunderwerbssteuer weiter zu entwickeln oder die interkommunale Zusammenarbeit zu verstärken.
Der im Juli 2020 verstorbene SPD-Politiker Hans-Jochen Vogel setzte sich über 50 Jahre für eine neue Bodenordnung und bezahlbares Wohnen ein. In seinem 2019 erschienenen Buch „Mehr Gerechtigkeit“ fordert er die Aufspaltung des Bodeneigentums in ein kommunales Verfügungs- und ein privates Nutzungseigentum, einen Planwertausgleich für leistungslose Bodenpreisgewinne und fasst zusammen: „Grund und Boden ist keine beliebige Ware, sondern eine Grundvoraussetzung menschlicher Existenz. Boden ist unvermehrbar und unverzichtbar. Er darf daher nicht dem unübersehbaren Spiel der Marktkräfte und dem Belieben des Einzelnen überlassen werden, sondern muss mehr noch als alle anderen Vermögensgüter in den Dienst der Interessen der Allgemeinheit gestellt werden. Die Wertschätzung des knappen und unentbehrlichen Gutes Boden darf sich nicht länger in spekulativen Gewinnerwartungen ausdrücken, sondern sollte vielmehr im Sinne einer nachhaltigen und gemeinwohlorientierten Nutzung erfolgen, die den Boden als wesentliche Grundlage der Daseinsvorsorge sowohl für die heutige Bevölkerung als auch für die kommenden Generationen anerkennt. Auf dieser Grundlage ist es mein Kernziel, Eigentum von Grund und Boden so weit wie möglich aus dem Herrschaftsbereich des Marktes herauszulösen und den sozialen Regeln des Allgemeinwohls zu unterstellen.“ (S. 48).
Die Stiftung trias versucht seit 2002 diesem Ziel gerecht zu werden. In ihrer Studie Die Kommunale Bodenfrage. Hintergrund und Lösungsstrategien untersuchten Werner Heinz und Bernd Bellina im Jahre 2019 die besondere Rolle des kapitalistischen Privateigentums an Grund und Boden. Sie stellten Daten und Fakten zu den Bodenpreisen, Investmentstrategien, Grundrenten vor, diskutierten aktuelle Reformvorschläge zur Bodenbesteuerung und zum Öffentlichen Grundeigentum sowie internationale Alternativen. Ihre Bilanz: „Die aktuelle Entwicklung auf den städtischen Immobilienmärkten hat sich in der Regel nicht gegen, sondern mit Unterstützung der Kommunen vollzogen. Im Zuge einer eindimensionalen Liegenschaftspolitik haben diese schon lange vor der in den 1990er Jahren rasch um sich greifenden Privatisierung kommunaler Unternehmen, Einrichtungen und Dienstleistungen immer größere Teile ihrer Flächen und auch Wohnungsbestände an private Investoren verkauft.“ Welche finanziellen Triebkräfte und kommunale Notlagen dafür ausschlaggebend waren, müsste noch untersucht werden. Der in der Studie angedeutete interkommunale Standortwettbewerb spielte dabei wohl ebenso eine Rolle wie die mangelhafte steuerliche Ausstattung der Kommunen.
In seinem Deutschlandfunk-Essay „Von der Idee, mit Grund und Boden reich zu werden“ setzt sich der Journalist und Biologe Timo Rieg mit den Absurditäten der Eigentumsreligion auseinander. Er schildert, wie Stadtplaner, Architekten, Verwaltungen und Kommunalpolitiker*innen die privatisierte Erde als erhebliche Begrenzung ihres Gestaltungsraums erleben.
Der rechtliche Umgang mit Boden spielt in der Wohnungsfrage besonders dann eine Rolle, wenn Grundbesitz im Alter städtebaulich ineffizient wird, wenn Grundeigentum Sozialpolitik ersetzt, wenn Grundstückseigentümer*innen im verdichteten Innenbereich denjenigen im Außenbereich gleichgestellt werden, wenn Eigentums- statt Nutzungsrechte im Mittelpunkt stehen. Das Baugesetzbuch schreibt im § 1 eine dem Wohl der Allgemeinheit entsprechende sozialgerechte Bodennutzung vor. Für das politische Tabu "Bodenreform" gibt es historische Gründe.
Das Bundesverfassungsgericht hat im April 2018 die derzeitige Bemessungsgrundlage für die Grundsteuer für verfassungswidrig erklärt. Bis 2025 müssen die Bundesländer ihre Grundsteuer neu berechnen oder das - vom Finanzminister Olaf Schulz entwickelte - Bundesmodell übernehmen. Alternativen werden diskutiert, vom Sargnagel für das Eigentum ist die Rede.
Eine Bodenwertzuwachssteuer steht im SPD-Programm. Die Wohnungswirtschaft läuft Sturm gegen Mietendeckel. Die entscheidende Stellschraube bleibt auch nach dem 1.1.2025 in kommunaler Hand. Mit ihren Hebesätzen können die Städte und Gemeinden dafür sorgen, dass sich die Steuern je nach Wohnort unterscheiden.
In die Diskussion geraten ist die Wiederbelebung der Grundsteuer C. Sie wurde 1961 eingeführt und drei Jahre wieder abgeschafft. Sie sollte damals wie heute Grundstücksspekulation verhindern und der "Baulandnot" entgegen wirken, führte aber seinerzeit zu Abgrenzungsschwierigkeiten hinsichtlich der Baureife, Rechtsstreitigkeiten und neuen Spekulationen. Zur Baulandsteuer haben die Wissenschaftlichen Dienste des Deutschen Bundestags haben am 3. März 2017 ein Papier zur historischen, rechtlichen und politischen Bewertung der Grundsteuer C veröffentlicht.
Möglichkeitsräume
„Möglichkeitsräume“ – So lautete im April 2020 der Titel der Zeitschrift „Politische Ökologie“. Sie setzt sich mit einer marktunabhängigen Raumplanung im Zeichen des Postwachstums auseinander. Dr. Christian Lamker ist Raumplanungsblogger und „Assistant Professor Sustainable Transformation and Regional Planning“ an der Universität Groningen. Seit 2016 arbeitet er gemeinsam mit seiner Dortmunder Kollegin Viola Schulze Dieckhoff an der Entwicklung von Rahmenbedingungen für die räumliche Organisation und Planung in einer Postwachstumsgesellschaft.
Das Aufeinandertreffen von Postwachstum und Raumplanung stellen Schulze Dieckhoff und Lamker mit Sechs Thesen einer Postwachstumsplanung zur Diskussion. Dort ist die Rede vom experimentellen und künstlerischen Handeln, vom Scheitern und von großen Transformationen durch kleinteilige Veränderungen. Postwachstumsplaner*innen sind Pioniere einer innovativen Kreislaufwirtschaft.
Christian Lamker sieht daher die Düsseldorfer Regionalplanänderung und die zurückliegende NRW-Kommunalwahl als Chance „eine echte Veränderung der städtischen Umgebungen anzugehen“: Mit einer Stärkung auch kleinteiliger Freiräume, mit einer Rücknahme des motorisierten Verkehrs und einer Förderung des Umweltverbunds. Wir sehen derzeit eine Zunahme von Einkäufen, die per Rad oder zu Fuß im nahen Umfeld erledigt werden. Uns sollte beschäftigen, wie kleinteilige Versorgungs- und Unterstützungsstrukturen erhalten und/oder aufgebaut werden können und welche räumlich-baulichen Voraussetzungen dafür notwendig sind.“
Am 24. September 2020 veröffentlichte die NRW-Landesregierung ihre Weiterentwicklung der Strategie für ein nachhaltiges Nordrhein-Westfalen. Darin empfiehlt sie den Kommunen, ihre Siedlungsflächen intelligent und multifunktional zu planen: „Frischluftschneisen, Notwasserwege, Grün und Retentionsflächen müssen strategisch in bestehende Siedlungsstrukturen aber auch in Neuplanungen integriert werden, um eine lebenswerte Umwelt zu erhalten. Herausfordernd ist dabei, integrierte und fachübergreifende Planungsansätze in den kommunalen Verwaltungen umzusetzen.“ (S.12) Es gelte „im Spannungsfeld des Bedarfs nach bezahlbarem Wohnraum, einer effizienten und gemischten Flächennutzung und einem gesunden Stadtklima, Lösungen für urbane Lebensqualität unter Beibehaltung der erreichten Umweltstandards zu entwickeln. (S.27)
Vielleicht wäre es ein intelligenter Anfang, Einzelhandelsflachbauten mit Wohnungen aufzustocken, und Gewerbegebiete ökologisch aufzuwerten – zum Beispiel mit Photovoltaikzellen oder flächendeckender Dach- und Fassadenbegrünung …
Aber Lamker macht sich keine Illusionen zu den Möglichkeiten kommunaler Planungshoheit. Der notwendige Wandel könne nur „in einer starken regionalen und landesweiten Perspektive erfolgen, da ein ökonomisch getriebener Wettbewerb zwischen einzelnen Städten in der Vergangenheit zu vielen negativen Entwicklungen geführt hat.“
Kommunen zwischen Verantwortungsdruck und 13b
Das Land NRW und der Regierungsbezirk Düsseldorf „lockern“ ihre Regeln zur Raumplanung und übertragen schwierige Verhältnismäßigkeits- und Nachhaltungsabwägungen auf die Entscheidungsträger*innen in den Städten und Gemeinden. Die haben schon jetzt und in naher Zukunft mit erheblichen Einnahmerückgängen zu tun. Finanzkräftigen Investorinnen und Investoren wird es in naher Zukunft nicht schwerfallen, Kommunen zu „überzeugen“ oder sie gegeneinander auszuspielen. Auf der Strecke bleiben dann die Abwägungsgründe, die aus einer Nachhaltigkeitsperspektive heraus entstanden sind.
Verwaltungsjuristen werden sich mit der Frage beschäftigen müssen, ob ein Landes-Koalitionsvertrag oder eine regionale Angebotsplanung eine ausreichende Rechtsgrundlage für eine Verantwortungsverlagerung auf die Kommunen bilden. Das deutsche Raumordnungsgesetz verpflichtet zur überörtlichen Nachhaltigkeitsabwägung und nicht zur Schaffung kommunaler Möglichkeitsräume.
Ohne zentrale Regeln gibt es keinen „Immobilienmarkt“, der fair und verantwortungsvoll mit Mensch, Natur und Zukunftschancen umgeht. Dass Kommunen in ihrer derzeitigen Lage freiwillig solche Regeln aufstellen, um langfristig wirkende Potenziale zu fördern, bleibt wohl so lange Illusion wie das finanzielle Anreizsystem für die kommunale „Weiterentwicklung“ auf kurze Laufzeiten und zahlungskräftige Menschen ausgerichtet ist.
Seit Jahren fehlen in der Region vor allem bezahlbare und altersgerechte Wohnungen. Das vorhandene Wohnungsangebot entspricht schon lange nicht mehr den Präferenzen der Wohnungssuchenden. Kommunalpolitik unterstützt immer noch das Einfamilienhaus auf der grünen Wiese. Es erfreut sich als vermeintlich gute Geldanlage großer Beliebtheit.
Der unsägliche § 13b des Bundesbaugesetzes (BauGB) befeuerte diesen Trend. Kommunen konnten im Rahmen von Arrondierungsmaßnahmen bis Ende 2019 Bauland auf der grünen Wiese ausweisen ohne Rücksicht auf Nachhaltigkeitsabwägungen, ohne Umweltbericht, ohne ökologische Ausgleichsmaßnahmen und mit verkürzter Bürgerbeteiligung. 2017 galt 13b als befristetes Geschenk an den CSU-Ministerpräsidenten. Es löste den ebenso einhelligen wie wirkungslosen Protest der planerischen Fachverbände, der Umweltverbände, des Umweltbundesamts, der Grünen, der Linken oder des Bundesrats aus.
Die Wissenschaftler*innen waren sich einig, dass der § 13b die bestehende Wohnungsnot in den Kommunen mit angespannten Wohnungsmärkten nicht lindern könne. Im Juni 2020 veröffentlichte das Umweltbundesamt eine qualitative Stichprobenuntersuchung zur kommunalen Anwendung des § 13b BauGB. Das Ergebnis überraschte nicht. 13 b sei eine raumpolitische Katastrophe, er verkehre die europäischen Regelungen zur Raumordnung und Umweltverträglichkeitsprüfung in ihr Gegenteil. 13b werde vorrangig von kleinen und ländlichen Gemeindeverwaltungen mit begrenzten Personalkapazitäten genutzt, um meist kleinere Bauvorhaben mit geringer Dichte und umfangreichen Eingriffen in den Naturhaushalt zu planen. Mehr zum § 13b BauGB finden Sie hier.
Der Kreis Viersen wird nach den Bevölkerungsprognosen schrumpfen. Die bereits bestehenden Einfamilienhaussiedlungen haben ein großes Freisetzungspotenzial. Viele Bewohner*innen wollen ihre Häuser verlassen, sich am Ort altersgerecht "verkleinern", finden aber kein passendes Angebot. Wo bleiben die kommunalen Initiativen, die altersgerechtes Wohnungsangebot mit der qualitativen Aufwertung der Bestandsimmobilien verknüpfen?
Das Risiko für Leerstände wächst. Der regionale Wohnungsmarkt bedarf einer sorgsamen Steuerung: "Die Qualifizierung des Wohnungsbestandes bzw. der Rückbau von nicht mehr nachfragegerechten Beständen sind hier die maßgeblichen Herausforderungen." Das schreiben die Expert*innen des GEWOS Instituts für Stadt-, Regional- und Wohnforschung in ihrem Wohnungsmarktgutachten für das Land NRW. Doch offenbar sind Wohnungsnachfrage und Siedlungsdruck entkoppelt von den kommunalen Flächenausweisungen-
Bodenpreissteigerungen durch Planungsgewinne nach der Bonczekschen Treppe passen zu einem auf Wachstumsgewinne ausgerichteten Wirtschaftssystem. Prof. Dr. Fabian Thiel ist Experte für Immobilienbewertung und Baurecht in Frankfurt. Er hat ausgerechnet, dass sich Grundstückspreise im politischen Prozess zwischen Landes-, Regional- über Flächennutzungs- bis hin zur Bebauungsplanung verhundertfachen können.
Mehr bezahlbare Wohnungen! Mehr Nachhaltigkeit! Mehr Klimaschutz! Niederrheinisch-nachhaltige Politik wäre wohl einfacher, wenn es kein privates Bodeneigentum gäbe…
Was meinen Sie?
Weitere Informationen
AAV – Verband für Flächenrecycling und Altlastensanierung (Link) |
Blühdorn, Ingolfur (2020): Nachhaltige Nicht-Nachhaltigkeit: Warum die ökologische Transformation der Gesellschaft nicht stattfindet (X-Texte zu Kultur und Gesellschaft) ISBN-13: 978-3837654424 |
politische ökologie 01–2020: Möglichkeitsräume - Raumplanung im Zeichen des Postwachstums (Link) |
Vogel, Hans-Jochen (2019): Mehr Gerechtigkeit!: Wir brauchen eine neue Bodenordnung – nur dann wird auch Wohnen wieder bezahlbar ISBN-13: 978-3451072161 |
Dienstag, 12. März 2019
"Flächenfraß und Menschenwürde": Über nachhaltiges Bauland in der Region Düsseldorf
"Zwischen 1992 und 2016 stieg die bundesdeutsche Bevölkerung um 3% und die Siedlungsfläche um 29,7%. Zwischen 2019 und 2040 wird die Bevölkerung im Planungsbezirk Düsseldorf um 3% wachsen. Wie hoch ist deren Siedlungsflächenbedarf unter Berücksichtigung der aus dem Kreis Viersen stammenden Hinweise für nachhaltiges Bauen und ein gepflegtes Lebensalter? Beachte dabei, dass nicht nur der Mensch auf der Erde lebt, die Erdoberfläche eine Konstante ist, das operative Ergebnis der Düsseldorfer LEG bis 2020 auf mindestens 356 Millionen Euro wachsen soll, aber das nordrhein-westfälische Ökobudget nur für 68 Tage pro Jahr ausreicht." Lesen Sie mehr