Dienstag, 13. November 2018
Mit Zuversicht den Geist dekolonisieren
Sie umfassen mehr als tausend Journalisten und Journalistinnen, stehen für Vielfalt und Interkulturalität und treten für eine ausgewogene Berichterstattung über das Einwanderungsland Deutschland ein: Die Neuen Deutschen Medienmacher. Die Düsseldorfer Journalistin Tina Adomako (Jg. 1957) gehört zum Vorstand des Vereins und war Gast der VHS-Grenzlandgrünreihe „Neuland Globale Nachhaltigkeit – Transformationen ins Ungewisse“. Ihr Thema „Nachhaltig leben – Was wir von Afrika lernen können“. Ihr Fazit: „Selbst wir in Afrika könnten viel mehr von uns und unserer Geschichte lernen.“ Ein Hauptgrund warum der globale Norden immer noch oft die Maßstäbe setze sei die anhaltende globale Kolonisierung des menschlichen Geistes. Neue Tendenzen zu einer Dekolonisierung seien aber erkennbar.
Tina Adomako wuchs in London und Accra auf und hat dort Anglistik und Afrikanistik studiert. Ihren Lebensweg in Deutschland begann sie als Reinigungskraft. Sie studierte in Freiburg Romanistik und Germanistik, war Redaktionsassistentin beim Bauer Verlag, wechselte kurz zum Birkhäuser Verlag in Basel, ging dann anschließend als Redakteurin zu Atlas Film, wurde internationale Pressereferentin bei der Kirch Gruppe in München und verbrachte viele Jahre als Redakteurin beim Fernsehsender RTL in Köln. Tina Adomako arbeitet heute als freie Journalistin in Düsseldorf. Sie liebt den Jazz und rezensiert regelmäßig familientaugliche Filme. Sie schreibt u.a. über Ghana, über Fragen der Gleichstellung und der Integration in Gesellschaft, Politik und in Betrieben. Sie ist Fachpromotorin für Empowerment und Interkulturelle Öffnung im Eine Welt Netz NRW -Promotorenprogramm und und betreibt die Seite „DiasporaNRW“. Als Bildungsreferentin im Rahmen des von „Engagement Global“ geförderten Programms "Bildung trifft Entwicklung" bietet sie Seminare zu den Themen Fairer Handel, Flucht, Migration & Integration sowie über die Lebensbedingungen von Menschen in Westafrika an
Kolonialismus und Dekolonisierung
Obwohl es auf dem afrikanischen Kontinent viele positive Entwicklungen gibt, schaffen es meist nur Meldungen in die breitenwirksamen Medien, die den sogenannten K-Themen zugeordnet werden können: Katastrophen, Kriege, Krisen, Krankheiten, Korruption und Kriminalität. Henning Mankell, der schwedische Schriftsteller und Erfinder von Kommissar Wallander, kommentierte vor einigen Jahren etwas zugespitzt die Lage so: „Wenn wir uns am Bild der Massenmedien orientieren, lernen wir heute alles darüber, wie Afrikaner sterben, aber nichts darüber, wie sie leben.“ Wenn es dann doch ums afrikanische Leben geht, wird die Berichterstattung eher exotisch: Es dominieren wilde Tiere, Safaris, Tänze, Trommeln und bunte Kleider. Tina Adomako will diesen Klischees entgegen treten.
1918 ist ein historisches Schlüsseljahr für Deutschland. Mit dem Weltkrieg enden auch Monarchie und der deutsche Kolonialismus. Die deutsche Kolonialzeit gehört im kollektiven Gedächtnis zu den eher unterbelichteten Kapiteln des westlichen Entwicklungsmodells. Kein Wunder. Es ist mit viel Gewalt unrechtmäßiger Landnahme und Völkermord verbunden. Der deutsche Imperialismus und die damit verbundenen Schäden sind noch nicht aufgearbeitet.
Dies gilt auch für die europäische Kolonialgeschichte. Der Kolonialismus hat sich seit Jahrhunderten in die menschlichen Hirne eingepflanzt. Adomako: „ Egal ob es um Demokratie, Medizin, Staatsführung, Industrialisierung, Bildungssystem oder Wissenschaft geht, der globale Norden setzt den Standard.“ Afrikanische Kultur gelte selbst bei vielen Afrikanern als überholt, rückständig und primitiv. „Viele Menschen in Afrika haben die angebliche europäische Überlegenheit verinnerlicht.“ Ausnahmen gebe es allenfalls in der Popkultur.
Auch nach 60-jähriger formaler Unabhängigkeit gilt: Wissen, Psyche und Mentalität in Afrika sind eurozentriert. Négritude oder Panafrikanismus spielen keine große Rolle mehr. Aber es gibt immer mehr Anzeichen für eine Rückbesinnung. Adomako: „Immer mehr afrikanische Frauen verzichten auf Chemie zur Glättung ihre Haare.“ Zur Dekolonisierung gehört die afrikanische Naturkraus-Frisur ebenso wie das Nachdenken darüber, wie man afrikanische Traditionen und Philosophien mit westlichen Gedanken und Systemen verknüpfen kann. Beispiele wären Rechtsprechung, Medizin, Landwirtschaft, der Umgang mit Geflüchteten oder die Rolle der informellen Arbeit. Bisher ist es allenfalls eine Minderheit kapitalismuskritischer junger Menschen, die das Afrikanische wieder entdeckt. Adomako: „Sie könnten aber durchaus Keimzelle für eine neue Entwicklungszusammenarbeit sein. Vielleicht zeigen eines Tages diese Menschen aus Afrika den Europäern, wie ein gutes und Ressourcen sparendes Leben möglich ist.“ Schließlich hat Afrika Bodenschätze und eine sehr junge Demografie mit viel Energie und Optimismus. Noch gehe der Trend allerdings eher in Richtung neuer Abhängigkeiten von chinesischen Investoren und in ein bedenkliches Anwachsen verschiedener Religionen. Neue Kirchen mit fundamentalistischer Ausrichtung ziehen Massen an und verhindern eine sachliche Auseinandersetzung mit vielen Themen. Adomako: „Albinos, Atheisten oder Homosexuelle müssen in vielen Ländern Afrikas um ihr Leben fürchten. Boko Haram gibt es nicht nur in Nigeria. Hier ist eine zweite Kolonisierungswelle des Geistes im Anmarsch."
Kulturerbe: verdrängt aufgedrängt und vergessen
Tina Adomako beleuchtet in ihrem Vortrag einige weniger bekannte Aspekte und Persönlichkeiten der Kolonisierung und der ghanaischen Vorgeschichte. Sie erinnert an 1682, als die Preußen auf Initiative des Kurfürst Friedrich-Wilhelm von Brandenburg mit der Brandenburg-Afrika Kompanie in den Sklavenhandel mit Menschen aus Ghana einstiegen und das Fort „Groß Friedrichsburg“ im Westen Ghanas aufbauten. Es ging um Sicherung des Sklaven-, Gold-, Salz und Gummihandels. 1717 verkaufte Preußen die afrikanischen „Besitzungen“ an Holland. Die Ruine der Festung „Groß Friedrichsburg“ gehört heute zusammen mit anderen europäischen Kolonialfestungen zum Weltkulturerbe der UNESCO.
Die so genannte Handelsfreiheit stand im Mittelpunkt der Berliner Kongokonferenz 1884/1885. Bismarck erklärte es als deren Ziel „den Eingeborenen Afrikas den Anschluss an die Zivilisation zu ermöglichen, indem das Innere dieses Kontinents für den Handel erschlossen“ werde. Allerdings wurden „die Eingeborenen“ dazu nicht gehört. Der kolonialistische „Handel“ war das Gegenteil von Fair Trade. Er war mit Völkermord und Gewalt verbunden. Auch der EDEKA-Einzelhandel ist ein Kulturerbe des deutschen Kolonialismus. Der Konzern entstand 1898 als eine Einkaufsgenossenschaft der Kolonialwarenhändler. Sie brachte zum Beispiel Ananas, Kakao, Tabak oder Kaffee auf den deutschen Markt.
Zum geistigen Kulturerbe trugen die exotischen Bilder eines angeblich geheimnisvollen Kontinents bei. Adomako: „Schwarze Menschen gab es dabei entweder als süße Maskottchen mit kindlichem Gemüt oder als wilde hinterhältige Barbaren.“ Vor hundert Jahren wurde in Deutschland mit einer Völkerschau unter dem Titel „50 wilde Kongoweiber“ geworben. Vieles bleibt im kollektiven Gedächtnis haften. Adomako verweist auf die Diskussionen um vergewaltigende Flüchtlinge oder die Spendenaufrufe mit Bildern von anrührenden schwarzen Kindern mit Fliegen im Gesicht.
Flüchtlingsforschung und –berichterstattung hierzulande sind eurozentrisch. Dabei liegt Afrika selbst im Mittelpunkt der Fluchtbewegungen und zeige, wie Flüchtlingspolitik auch funktionieren kann. Allein Äthiopien, Kenia und Uganda beherbergen mehr Flüchtlinge als ganz Europa. Uganda habe seine Grenzen geöffnet und biete den Flüchtlingen Recht auf Arbeit und Freizügigkeit. Adamokos These, dass Europa etwas vom afrikanischen Umgang mit Flüchtlingen lernen könne, stößt beim VHS-Grenzlandgrün-Publikum auf Skepsis. Aber der europäischen Forschung zum Thema Flucht und Asyl könnte eine afrikanische Perspektive womöglich zu neuen Erkenntnissen verhelfen. Vielleicht lebt dann eine 2016 schnell begrabene Idee unter anderen Vorzeichen wieder auf. Ulrike Guérot und Robert Menasse schlugen vor, den Flüchtlingen in Europa Bauland zu geben und die Neuankömmlinge eigene Städte bauen zu lassen.
Adomako erinnert an den auf der französischen Kolonie Martinique geborenen Psychiater, Politiker und Schriftsteller Frantz Fanon (1925-1961). Er hat die Mechanismen der Geisteskolonisierung entschlüsselt und galt als ein wichtiger Vordenker für eine Überwindung von Rassismus und Kolonialismus („Schwarze Haut – weiße Masken). Er droht heute in Vergessenheit zu geraten. Auch der im heutigen Ghana geborene von Niederländern versklavte Anton Amo (1703 – 1753) ist weitgehend unbekannt. Der „schwarze Philosoph“ lehrte Rechtwissenschaften und Philosophie in Halle, Wittenberg und Jena.
Mit der anschaulichen Geschichte „Der Adler, der nicht fliegen wollte“ hat der ghanaische Gelehrte James Aggrey (1875-1927) eine Fabel zu den Folgen des Kolonialismus verfasst. Darin fing ein Mann einen jungen Adler und sperrte ihn zu seinen Hühnern in den Hühnerstall. Der Adler erhielt Hühnerfutter und wurde wie ein Huhn behandelt. Als ein anderer Mann den Adler entdeckte, konnte er ihn nur unter großen Schwierigkeiten zum Fliegen bewegen, denn der Adler empfand wie ein Huhn. Die Geschichte endet mit den Sätzen: „Völker Afrikas! Wir sind nach dem Ebenbild Gottes geschaffen, aber Menschen haben uns beigebracht, wie Hühner zu denken und noch denken wir, wir seien wirklich Hühner. Aber wir sind Adler. Darum breitet Eure Schwingen aus und fliegt! Und seid niemals zufrieden mit den hingeworfenen Körnern.“
Adomako lädt die VHS-Grenzlandgrün-Besucherinnen und Besucher anhand von Bildern zum Personenraten ein. Nelson Mandela (1918-2013) und Kofi Annan (1938-2018) werden erkannt, Nkruhma (1909-1972) und Julius Nyerere (1922-1999) nicht. Bill Gates kennt jeder, den Mobilfunkunternehmer und Stifter Mo Ibrahim niemand. Auch der Chemieingenieur Thomas Mensah wird beim Personenquiz nicht erkannt. Dabei hat er 14 Patente inne, entwickelt Überschallraketen, ist Präsident eines Raumfahrtunternehmens und gilt als Pionier der Glasfasertechnologie. Die kenianische Feministin, Umweltaktivistin, Club of Rome – Wissenschaftlerin, Trägerin des Alternativen Nobelpreises und des Friedensnobelpreises Wangari Muta Maathai (1940 – 2011) bleibt ebenso unerkannt wie die liberianische Staatspräsidentin Ellen Johnson Sirleaf. Auch sie erhielt den Friedensnobelpreis.
Für „globale Nordlichter“ überraschend ist auch die TOP TEN der reichsten Menschen aller Zeiten: Jeff Bezos, Bill Gates, Caesar und John D. Rockefeller gehören dazu. Nr. 1 ist aber ein Schwarz-Afrikaner: Mansa Kankam Musa. Und gäbe es eine feministische Frauen-Power-Rangliste: Yaa Asantewaa (1863-1921) wäre Adomakos Nr. 1. Sie hat den verzagten Männern in den Aschanti-Kriegen gezeigt, „wo es lang geht“: Adomako: „Sie wäre ein Vorbild für junge Mädchen of Colour, aber außerhalb Ghanas kennt sie keiner.“
Kognitive Dissonanzen
Als Thomas Edward Bowdich 1819 unter dem Titel „Mission from Cape Coast Castle to Ashantee“ eine empirische Untersuchung zum Königreich der Aschanti“ veröffentlichte, wurde sie im Britischen Königreich eher als Märchen wahrgenommen. Daten und Berichte zeigten zivile Errungenschaften und eine Kultur, die die Briten keinem afrikanischen Volk zutrauen wollten.
Wahrnehmungen und Einstellungen zu einem Thema können sich widersprechen. Man spricht dann vom Gefühl der kognitiven Dissonanz.
Das hat wohl Tina Adomako beschlichen, wie sie zu Beginn des VHS-Grenzlandgrün-Abends andeutete. Die neuen deutschen Medienmacher wollten anlässlich ihres 10-jährigen Jubiläums die Liste der so genannten Negativpreise vergrößern. Sie heißen „Big Brother Award“, „Goldener Aluhut“, „Goldener Windbeutel“ oder „Dinosaurier des Jahres“ und gelten als Antiauszeichnungen, die in der Öffentlichkeit das Bewusstsein für Missstände stärken sollen. Sie sind also keine Preise, sondern eher Schmähungen oder Rügen. Daher ist es üblich, dass die Preisträgerinnen und Preisträger der Verleihung fernbleiben. Mit der „Goldenen Kartoffel“ wollen die Neuen deutschen Medienmacher einen negativen Medienpreis für Berichterstattung kreieren, die ein besonders verzerrtes Bild unseres Zusammenlebens in der Einwanderungsgesellschaft zeichnet.
BILD-Chef Julian Reichelt war der erste Preisträger. Er kam überraschend zur Preisverleihung, nicht um den Preis entgegen zu nehmen, sondern um ihn abzulehnen. Begründung: „Kartoffel“ sei rassistisch und richte sich gegen Deutsche. So versuchte Julian Reichelt den Negativpreis in eine Schuldzuweisung an die neuen deutschen Medienmacher zu drehen. Die wiederum erklärten, dass Kartoffel nicht rassistisch gemeint sei und lösten im deutschen Feuilleton eine Kartoffeldebatte aus. Dabei wurde erneut an die Einbürgerungskampagne Hannovers mit dem schon im Jahr 2011 umstrittenen Titel „Kartoffel werden“ erinnert. Auch die „Kanaken“ und „Kartoffeln“ in der deutschen Nationalmannschaft wurden wieder zum Thema . Man wunderte sich, wo der „Kraut“ geblieben sei oder dass ausgerechnet die aus den Anden stammende Kartoffel für Deutsche ohne Migrationshintergrund und ohne interkulturelle Kompetenz stehen solle. Die Intention der neuen Medienmacher, die hetzerische Berichterstattung der BILD-Zeitung auf den Prüfstand zu stellen, spielte aber kaum noch eine Rolle. Die „goldene Kartoffel“ ist somit auch ein Beispiel dafür, wie Aufmerksamkeitsökonomie und geistige Kolonisierung funktioniert.
Afrika steht und stand für vieles: Heute heißt es, man müsse Afrika mit Blick auf die Rohstoffreserven als Wirtschaftspartner ernst nehmen, bevor es zum Ausverkauf an China oder zu größeren Fluchtbewegungen kommt. Früher galt Afrika als ein Kontinent der von Menschen bevölkert war, die so anders waren, das man meinte, sie wie Vieh behandeln zu dürfen. Zwischendurch musste Afrika angeblich von Tyrannei und Irrationalismus befreit werden, dann wurde es Objekt westlicher Entwicklungshilfe, die den Afrikanern Landwirtschaft, Arbeit, Schule oder Demokratie beibringt. Eine Zeit lang galt Afrika auch als verlorener Kontinent, dann wieder half angeblich das Vertrauen auf freie Märkte...
„Wer auf einen Baum klettern will fängt unten an, nicht oben.“ Der Abend mit Tina Adomako hat deutlich gemacht, dass der erste Schritt zu einem global-nachhaltigen Handeln darin besteht, seinen Geist zu dekolonisieren und sich mit Zuversicht und Optimismus von kultureller Arroganz und Besserwisserei zu verabschieden. „Afrika hat seine Geheimnisse und selbst ein weiser Mensch wird diese nie verstehen. Er kann sie aber respektieren.“ (Miriam Makeba)