Montag, 5. Oktober 2020 (Montagstext Nr. 2)
Über eine Raumplanung für mehr Wohnbauland und Klimaschutz
"Drei Kreuze nach dem Kreuz mit den Kreuzen"…das dachten manche Menschen am vergangenen Montag. Die Stichwahlen sind entschieden. Der Wahlkampf mit seinen Parolen, Plakaten und Programmen und ist nun definitiv vorbei – zumindest bis zum nächsten Jahr. Der Kampagnensturm auf den diversen Internetplattformen hat sich gelegt. „Mehr Klimaschutz“, „Mehr preiswerte Wohnungen“, „Mehr Nachhaltigkeit“. Das waren drei Forderungen, die die meisten Wahlkämpfer*innen im Grenzland teilten. Jetzt wird sich zeigen, wie daraus „vor Ort“ handfeste Kommunalpolitik entsteht. Der Handlungsspielraum für Nachhaltigkeit ist in den letzten Monaten ebenso gewachsen wie der kommunale Handlungs- und Verantwortungsdruck. Die Mehrheit der Landes- und Regionalpolitiker*innen hat in den zurückliegenden Monaten komplexe raumordnerische Nachhaltigkeitsabwägungen auf die Städte und Gemeinden verlagert. „Global denken und lokal handeln“: Im Spannungsfeld zwischen Wohnungsbau und Klimaschutz kann die Forderung nach mehr Nachhaltigkeit Chance und Bürde für die kommunale Planungshoheit werden. Lesen Sie mehr
Donnerstag, 20. Juni 2019
Wohnen in Deutschland
Die gesellschaftliche, politische und mediale Diskussion zur Wohnungsthematik hat in den letzten Monaten an Dynamik gewonnen. Unter dem Titel "Teure Mieten, wenig Wohnraum, viel Redebedarf" hat Deutschlandradio-Volontär Niklas Potthoff eine lesenswerte Übersicht über die Debatte um die allgemeine Wohnsituation in Deutschland erstellt. Unter "Wohnungspolitik neu denken" dokumentiert der Deutschlandfunk Kultur seine gleichnamige Sendereihe.
Dienstag, 12. März 2019
"Flächenfraß und Menschenwürde": Über nachhaltiges Bauland in der Region Düsseldorf
"Zwischen 1992 und 2016 stieg die bundesdeutsche Bevölkerung um 3% und die Siedlungsfläche um 29,7%. Zwischen 2019 und 2040 wird die Bevölkerung im Planungsbezirk Düsseldorf um 3% wachsen. Wie hoch ist deren Siedlungsflächenbedarf unter Berücksichtigung der aus dem Kreis Viersen stammenden Hinweise für nachhaltiges Bauen und ein gepflegtes Lebensalter? Beachte dabei, dass nicht nur der Mensch auf der Erde lebt, die Erdoberfläche eine Konstante ist, das operative Ergebnis der Düsseldorfer LEG bis 2020 auf mindestens 356 Millionen Euro wachsen soll, aber das nordrhein-westfälische Ökobudget nur für 68 Tage pro Jahr ausreicht."
Vor dieser politischen Rechenaufgabe stehen derzeit Kommunal- und Regionalpolitiker*innen aus den Städten Düsseldorf, Krefeld, Mönchengladbach, Remscheid, Solingen, Wuppertal und den Kreisen Kleve, Mettmann, Neuss und Viersen. Die Lösung ist nicht einfach. Erschwerend kommt hinzu, dass das Bevölkerungswachstum um 3% nur ein durchschnittliches ist: Düsseldorf kann mit einem Zuwachs von 80.911 Menschen rechnen. Der Kreis Viersen kann sich auf einen Verlust von 8.736 Menschen einstellen. Dennoch sollen nach dem Vorschlag der Regionalplanungsbehörde im Kreisgebiet 8.953 neue Wohnungen entstehen. Ist der Düsseldorfer Wohnungsengpass mit mehr Bauland in der Planungsregion zu beseitigen?
Wie nachhaltig ist das Credo der nordrhein-westfälischen "Allianz für mehr Wohnungsbau"? Ina Scharrenbach, Ministerin für Heimat, Kommunales, Bau und Gleichstellung des Landes NRW hat die Allianz mit den wohnungswirtschaftlichen Verbänden geschlossen und die Gleichung im jüngsten LEG-Wohnungsmarktreport aufgestellt: „Ohne Bauland kein Bauen. Ohne bezahlbares Bauland kein bezahlbares Bauen und damit keine bezahlbaren Mietwohnungen.“
Leichter leben und nachhaltig planen
„Wir wollen in Verantwortung für nachfolgende Generationen bauen. Zirkuläre Wertschöpfung und nachhaltiges Bauen sind vor dem Hintergrund mangelnder Ressourcen alternativlos.“ So lautete das Bekenntnis des Viersener Landrats Dr. Andreas Coenen auf der Tagung „Klimaschutz durch Ressourceneffizienz“, zu der die KlimaExpo.NRW am 9. November 2018 nach Aachen geladen hatte. Coenen stellt den Menschen in den Mittelpunkt seiner Betrachtungen von Gesundheit, Luftqualität, Finanzrahmen Arbeitsbedingungen, Energie und Wasser, will Baustoffe und Materialen neu verwenden und mehr Energie erzeugen als man selbst verbraucht. Für die städtebauliche Entwicklung im Quartier möchte er Synergieeffekte bei der Energiegewinnung, der Heizung und Klimatisierung, der Regenwasserspeicherung, beim Grünkonzept oder der IT-Infrastruktur nutzen. Damit greift Coenen Aspekte auf, die auch das Bundesministerium für Umwelt, Naturschutz , Bau und Reaktorsicherheit 2016 in einem Leitfaden zum zukunftsfähigen Planen, Bauen und Betreiben von Gebäuden angesprochen hat.
Ausgangspunkt der seit etwa 10 Jahren auch in den deutschen Kommunen geführten Diskussion sind Konzepte, die die Fachstelle Nachhaltiges Bauen der Stadt Zürich im Rahmen des Schweizer Kommunalprogramms „2000 Watt Gesellschaft“ entwickelt. Das unter Federführung des Novatlantis-Instituts für Nachhaltigkeit und Wissenstransfer entwickelte Programm will die Effizienz des Energieeinsatzes verbessern, den Energieverbrauch senken und erneuerbare Energieträger fördern. Integraler Bestandteil des Programms ist das Leitbild der Genügsamkeit („Leichter leben“): „Die Umsetzung von Forschungserkenntnissen bedarf jedoch auch der gesellschaftlichen und politischen Akzeptanz, um eine ausgewogene Lebensweise im Sinne des Suffizienzgedankens zu erreichen. Nur im Zusammenspiel zwischen Technologie und Mensch können Energie- und Klimaziele langfristig erreicht werden“.
Auch der Leitfaden „Nachhaltiges Bauen“ postuliert, erst einmal zu prüfen, ob Neubauten und zusätzliche Versiegelungen nicht auch vermieden werden können: „Vor der Entscheidung für eine Neubaumaßnahme muss im Rahmen der Variantenuntersuchung schlüssig dargelegt werden, dass der Raumbedarf durch Bestandsgebäude – unter Einbeziehung von Belegungsoptimierungen – wirtschaftlich nicht abgedeckt werden kann. Dabei sollen Möglichkeiten der Umnutzung, des Umbaus und der Erneuerung von Bestandsgebäuden einbezogen werden. Zum Schutz des Naturraums werden das Ziel der Minimierung der Flächeninanspruchnahme sowie eine Vermeidung der Zersiedelung der Landschaft und die Geringhaltung zusätzlicher Bodenversiegelung angestrebt. Die Möglichkeit eines Flächenrecyclings ist in die Überlegungen ebenfalls einzubeziehen. Bereits versiegelte Flächen sind vorrangig zu nutzen. So ist die Nutzung von Industriebrachen, ehemals militärisch genutzter beziehungsweise anderer untergenutzter Flächen oder die Möglichkeit von Baulückenschließungen zu prüfen.“
Damit „Nachhaltiges Planen und Bauen“ nicht nur in Sonntagsreden, sondern im Alltag eine Rolle spielt, sind Kennzahlen, Daten und Indikatoren erforderlich. Das Novatlantis-Institut schreibt dazu: „Zuverlässige Datengrundlagen sind ein wichtiger Bestandteil um effektive Nachhaltigkeitsbestrebungen zu planen, umzusetzen und deren Erfolg zu überprüfen."
Positivismusstreit und Malen nach Zahlen
Demografische Statistiken und Katastersysteme sind so alt wie eine zivilisierte und sesshafte Menschheit. Ob es um Steuern, Ackerfläche, kampffähige Männer, Bundeszuschüsse oder Flubereinigungen geht: Zahlen bilden die Basis für’s Definieren, Handeln und Gestalten. Wer zählen kann und die Grundrechenarten gelernt hat, kommt mit vielen Alltagsherausforderungen rund ums Essen, Einkaufen oder Geburtstag feiern gut zurecht. Wer Funktionsanalysen und Wahrscheinlichkeitsrechnungen beherrscht, kann Statistiken, Fortschreibungen und Prognosen nachvollziehen. Wer politische Probleme lösen oder einen Betrieb managen möchte, braucht Zahlen. Auch die, die Flächennutzungspläne erstellen, „malen“ nach Zahlen.
„Wissen.Nutzen“ lautet daher das Motto des Bundesamts für Statistik. Welchen Nutzen statistisches Wissen für Gesellschaftsanalysen hat, ist ein methodologisches Dauerthema, auch wenn heute manche meinen, der „Positivismusstreit“ habe etwas mit guter und schlechter Laune beim Wohnen zu tun. Denn die Mieten steigen, die Zinsen sind niedrig. Folge: gute Laune in der Wohnungswirtschaft, schlechte Laune bei Mietern und Kleinsparern.
Im Alltag kursieren zwei geflügelte Worte zum Zusammenhang von Zahlen, Planen und Handeln „Trau keiner Statistik, die Du nicht selbst gefälscht hast“ , „Prognosen sind schwierig, besonders, wenn Sie die Zukunft betreffen.“
Die Herkunft dieser Worte ist umstritten, ihr Wahrheitsgehalt ist es nicht. Was in der letzten Wahlperiode im Grenzland an kommunalen Schulentwicklungs- und Kindergartenbedarfsplänen erarbeitet wurde, scheint heute bereits überholt zu sein. Denn zwischen 2012 und 2016 stiegen die Geburtenrate und das Wanderungssaldo in der Region. Es kamen mehr Flüchtlinge aus Krisengebieten und Zuwanderer aus europäischen Ländern in die Region als erwartet. In und um Düsseldorf hat sich der Wohnungsmangel verschärft.
Die angeblich „unabwendbare“ Schrumpfung von 3,28 Millionen Einwohner auf 3,20 Millionen Einwohner*innen im Jahre 2030, die noch vor wenigen Monaten für die Planungsregion Düsseldorf vorhergesagt wurden, ist überholt. Jetzt prognostizieren die nordrhein-westfälischen Statistiker*innen bis zum 1. Januar 2040 eine Steigerung von derzeit 3.282.662 auf 3.384.827 Einwohner*innen. Das sind 102.165 Menschen mehr als heute. Für die werden – laut Bezirksregierung Düsseldorf – rund 53.750 neue Wohnungen auf 760 Hektar Siedlungsfläche mehr gebraucht als im Dezember 2018 verabschiedeten Regionalplan vorgesehen. Dort ist man von einem Bedarf von insgesamt 108.250 neuen Wohnungen ausgegangen. Allerdings wird der Bezirk nicht gleichmäßig wachsen. Den größten Zuwachs wird es an der „Rheinschiene“ geben (+ 80.911 in Düsseldorf, + 23.947 im Kreis Neuss). Der Kreis Viersen bleibt zwar auch nach den Neuberechnungen von 2018 der größte „Verlierer“, schrumpft allerdings nur noch um 8.736 Einwohner auf nunmehr 289.687 am 1. Januar 2040. Daher wird sich auch im Kreis Viersen der im Regionalplan errechnete zusätzliche Wohnungsbedarf von 7.750 auf 8.953 Wohnungen erhöhen. Nach dem letzten Zensus gibt es im Kreis Viersen derzeit 138.817 Wohnungen. Davon stehen 4.173 Wohnungen leer.
Der nächste Zensus wird im Jahre 2021 erstellt. Dann ist mit geänderten Einwohnerzahlen zu rechnen. Wie entscheidend die Zahlen sind, hat Berlin erlebt. Dort sind beim letzten Zensus rund 180.000 Menschen weniger gezählt worden. Im Länderfinanzausgleich bekommt Berlin seither pro Jahr 470 Millionen Euro weniger, insgesamt ist das ein Verlust von 4,7 Milliarden Euro bis zum nächsten Zensus. „Kopfgeldjagd“ gibt es auch in den Städten und Gemeinden Nordrhein-Westfalens. Hier ist die Höhe der Schlüsselzuweisungen beim kommunalen Finanzausgleich zwar von etlichen Faktoren abhängig, in erster Linie aber zählt die Einwohnerzahl einer Kommune. Bei den Kämmerern besonders beliebt sind gut verdienende Einwohner und Einwohnerinnen. Grund: der kommunale Anteil an der Einkommensteuer.
Wohnen in der Raumordnungsregion Düsseldorf
Das Bundesamt für Bauwesen und Raumordnung definiert derzeit 96 Raumordnungsregionen in Deutschland. Dahinter verbergen sich großräumige, funktional abgegrenzte Einheiten, die sich aus den insgesamt 402 Kreisen und kreisfreien Städten zusammensetzen. Wichtiges Kriterium für eine Raumordnungsregion sind die Arbeitsmarkt- und Pendlerverflechtungen. Die Regionen unterscheiden sich. Allein die Bevölkerungsdichte schwankt zwischen 42 Menschen pro Quadratkilometer in der Region Altmark bis zu 4.055 Menschen in Berlin. Die 2009 entstandene Planungsregion Düsseldorf liegt mit 1.232 Menschen pro Quadratkilometer auf dem vierten Platz in der Rangordnung „Bevölkerungsdichte“ - nach Berlin, Hamburg, Bremen. In der Planungsregion Düsseldorf leben knapp 3,3 Millionen völlig unterschiedliche Menschen. Die Region gilt als wirtschaftsstark. Das Bruttoinlandsprodukt liegt etwa 20% Prozent über dem Durchschnitt des Landes NRW. Ein Grund ist die Vielfalt und das breite Spektrum wirtschaftlicher Aktivitäten. Die Region beherbergt global agierende Großunternehmen, Hochschulstandorte, einen ausgeprägten Mittelstand, verarbeitendes Industriegewerbe, Gartenbau und Landwirtschaft und - nicht zuletzt dank der Landeshauptstadt - einen großen Dienstleistungssektor. Die Menschen der Region wohnen derzeit in 1.640.025 unterschiedlichen Wohnungen – von der alten Etagenwohnung an einer großstädtischen Hauptverkehrsstraße bis zum neugebauten freistehenden Einfamilienhaus im ländlich geprägten Umfeld ohne Anbindung an den öffentlichen Personenverkehr. Im Jahre 2017 entstanden in der Raumordnungsregion Düsseldorf 8.644 neue Wohnungen, davon 2.875 in Düsseldorf.
Die PWIB-Wohnungsinfobörse GmbH wertet ihr Portal „Wohnungsbörse“ regelmäßig aus und gelangt so zu einem „Mietspiegel“ dessen Durchschnittszahlen nicht wesentlich von den offiziellen und weitaus differenzierteren Richtwerttabellen abweichen. Die Ergebnisse zeigen, wie vielfältig der Wohnungsmarkt ist. Während in Cottbus für eine 60 Quadratmeter-Wohnung eine monatliche Kaltmiete von durchschnittlich 340 € fällig wird, sind dafür in Düsseldorf 674 € zu zahlen. Selbst innerhalb des Kreises Viersen gibt es große Unterschiede bei den Kaltmieten für eine durchschnittliche 60 Quadratmeter-Wohnung: Kempen (505 €), Tönisvorst (443 €), Willich (432 €), Viersen (379 €). Nach diesem „Mietspiegel“ sind die Mieten in der Region zwischen 2011 und 2017 mit rund 20% stärker gestiegen sind als das von IT.NRW errechnete durchschnittliche Arbeitnehmerentgelt (+13,8%)
Wie das Wanderungsgeschehen und die Wohnungsnachfrage in den nächsten Jahren aussehen werden, hängt nicht zuletzt von den zukünftigen konjunkturellen und politischen Entwicklungen in Europa ab. Wie immer gilt: Statistische Vorausberechnungen sind nur so gut, wie die Annahmen, die ihnen zugrunde liegen. Je weiter der Blick in die Zukunft geht, desto ungenauer wird er.
Der gültige Regionalplan geht noch von einem zusätzlichen Bedarf an 108.250 Wohneinheiten und einem planerisch gesicherten Flächenpotenzial für 111.950 Wohneinheiten aus. D.h. statistisch gesehen steht heute eine Wohneinheit für zwei Personen zur Verfügung. Für die neuen Bewohner des Planungsbezirks verbessert sich die statistische Auslastung auf 0,9 Personen pro Wohneinheit. Rein rechnerisch gibt es im Düsseldorfer Planungsbezirk jetzt und in Zukunft ausreichend viele Wohnungen. Statistisch gesehen existiert sogar einen Wohnungsüberhang. Und das selbst dann, wenn die Bedarfsanalyse den Ersatzbedarf durch Abrisse mit 0,2% des Wohnungsbestandes (= 3.280 Wohnungen) und eine einprozentige Fluktuationsreserve von 16.400 Wohnungen mit berücksichtigen würde. Schließlich stehen derzeit 61.008 Wohnungen (= 3,7%) leer. Mehr als 9.700 Wohnungen werden in den nächsten 20 Jahren frei werden. Denn 2040 wird der Kreis Viersen 8.736 Menschen weniger haben. Remscheid verliert 5.673, Krefeld 3.427 und der Kreis Mettmann 1.713.
Trotzdem findet auch in den Schrumpfungskommunen des Planungsbezirks Neubau statt. Investoren suchen nach Qualitäten, die der derzeitige Bestand an Gebrauchtimmobilien nicht erfüllt. Das Problem: jede neue zusätzliche Wohnung erhöht den Leerstand. Immer weniger passen Angebot und Nachfrage zusammen. Wer in Düsseldorf eine Zweizimmerwohnung sucht, dem ist mit einem leerstehenden Einfamilienhaus in Grefrath nicht gedient.
Es gibt im Planungsbezirk keinen Wohnungsmarkt, sondern viele Wohnungsmärkte, die sich nach Quartieren, Kommunen, Regionen und Gebäuden differenzieren. Zwischen Angebot und Nachfrage besteht in den Teilmärkten seit Jahren ein Missverhältnis. Kleine, preisgünstige oder barrierefreie Wohnungen sind selbst auf dem „platten Land“ knapp. Die Nachfrage ist durch Flucht, Zuwanderung und den demografischen Wandel in den letzten Jahren gestiegen. Doch die Investitionen in entsprechende Wohnungen waren in der Vergangenheit viel zu gering. Für viele Menschen im Planungsbezirk Düsseldorf werden fehlende Wohnungen, steigende Mieten und hohe Wohnkosten zu einem gravierenden Problem. Dass Wohnbedarf und –potenzial seit Jahren nicht zueinander passen, bestätigen die jährlichen Wohnungsmarktbarometer der NRW.BANK. In der Kategorie „Marktanspannung“ nimmt die "Rheinschiene" seit Jahren den Spitzenplatz ein. Dass ausreichend öffentlich geförderte Mietwohnungen gebaut werden, verneinen 93% der befragten Experten. Kaum jemand bestätigt Studierenden, Auszubildenden, Familien mit mehreren Kindern, älteren Menschen , Haushalten mit unterdurchschnittlichem Einkommen , Transferleistungsempfängern, anerkannten Asylberechtigten oder Rollstuhlnutzern, dass sie gute Chancen auf eine adäquate und preisgünstige Wohnung in ihrer Region haben. Karolinger Höfe in Bilk, Flinger-Carée, Win-Win im Medienhafen, Schöffenhöfe in Lierenfeld, Mühlenquartier in Benrath - an keinem Ort in der Planungsregion wird derzeit so viel gebaut wie in Düsseldorf. Ausreichen wird es für die Zukunft nicht.
Wohnbedürfnisse und Baulandbedarfe
„Die kommunale Baulandentwicklung muss bedarfsgerecht erfolgen.“ Das erste Ziel des Kapitels „Verantwortungsvolle Flächeninanspruchnahme“ im aktuellen Regionalplan Düsseldorf ist ebenso schlicht wie interpretationsoffen formuliert. Die bundespolitische Kontroverse um die Wirkung von Mietpreisbremsen, Baukindergeld oder Grundsteuer, der öffentlich ausgetragene Mietobergrenzenstreit zwischen der Viersener Kreis- und Stadtverwaltung oder die Tübinger und Berliner Enteignungsdebatten zeigen: Fragen rund um Wohnungsmangel, Wohnbedürfnisse, Baulandbedarf und ökonomischer Nachfrage sind längst nicht so eindeutig wie sie mit der schlichten politischen Gleichung „steigender Wohnraumbedarf = steigende Siedlungsfläche" erscheinen.
Dass wir Siedlungsfläche brauchen, ist unumstritten, denn Wohnen zählt zu den Grundbedürfnissen der Menschen und zum Gestaltungsauftrag aller politischen Ebenen. „Die Würde des Menschen ist unantastbar. Sie zu achten und zu schützen ist Verpflichtung aller staatlichen Gewalt“. lautet der Artikel 1 des Grundgesetzes. Wohnen gehört zur Menschenwürde. Das wird rechtlich bekräftigt durch das grundgesetzliche Sozialstaatsgebot im Artikel 20, den Artikel 34 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union oder den Artikel 25 der UN-Menschenrechtscharta: „Jeder hat das Recht auf einen angemessenen Lebensstandard, der für die Gesundheit und das Wohlergehen seiner Person und seiner Familie angemessen ist, einschließlich Nahrung, Kleidung, Wohnraum und medizinischer Versorgung und notwendiger sozialer Dienste sowie des Rechts auf Sicherheit bei Arbeitslosigkeit und Krankheit , Behinderung, Witwenschaft, Alter oder sonstiger Mangel an Lebensunterhalt unter Umständen, die außerhalb seiner Kontrolle liegen.“ Das Bundesverfassungsgericht hat in mehreren Urteilen betont, dass sich dieses Menschenrecht auf Gewährung eines menschenwürdigen Existenzminimums auch aus dem Grundgesetz herleiten lässt.
Ein Blick auf Bahnhofsvorplätze, Brücken oder Hauseingänge zeigt: die staatliche Durchsetzung des Menschenrechts auf Wohnung ist nicht gewährleistet. Zwar kann man nachlesen, dass am 3.11.2017 nach einer Repräsentativerhebung 7.276 Millionen Schweine in NRW lebten aber Zahlen, wie viele Menschen in der Region an dem Tag obdach- und wohnungslos waren, existieren nicht. Die letzte detaillierte Auflistung der nordrhein-westfälischen Statistiker*innen ist fast dreizehn Jahre alt. Demnach zählte am 30.6.2006 der Planungsbezirk Düsseldorf 2.646 Obdachlose, davon 1.095 in Düsseldorf und 265 im Kreis Viersen. Es dürften heute mehr sein. Die Bundesarbeitsgemeinschaft Wohnungslosenhilfe schätzte die Zahl wohnungsloser Menschen in Deutschland im Jahre 2012 auf 284.000 Menschen und 2016 bereits auf 420.000 Menschen. Es besteht allerdings keine statistisch abgesicherte und einheitliche Erfassung von Wohnungslosigkeit. Zählen auch die dazu, die in Notunterkünften oder übergangsweise bei Freunden wohnen oder nur die, die auf der Straße leben?
"Privat vor Staat": Anstatt das Recht auf Wohnung flächendeckend zu garantieren, hat sich der Staat in den letzten Jahren aus der Verantwortung für den sozialen Wohnungsbau gezogen. Er duldet Stromsperren und geht nur unzureichend gegen Mindestlohnverstöße vor. Er hat Immobilien und kommunale Grundstücke an private Investoren verkauft und sich damit selbst politischer Gestaltungsmöglichkeiten beraubt. Das war ein Fehler. Diese Erkenntnis setzt sich gerade durch. Doch mit Blick auf die Stadt Düsseldorf sprach die NRZ noch im Oktober 2018 vom „städtischen Verkaufsrausch“ bei kommunalen Baugrundstücken Entstehungsgeschichte und Vermarktung mancher Baugebiete im Kreis Viersen zeigen allerdings, dass die Abgabe von politischen Gestaltungsmöglichkeiten zugunsten einmaliger Haushaltseinnahmen kein ausschließliches Großstadtproblem ist.
Dieselfahrverbote und Zwangsräumungen: Wenn Kommunen den Schutz der körperlichen Unversehrtheit durch saubere Luft der Gesundheits- oder gar der Automobilwirtschaft und den Schutz der Menschenwürde durch eine warme und die Privatsphäre respektierende Wohnung an LEG, Vonovia oder Deutsche Wohnen überlassen, entsteht politischer Verdruss und Gereiztheit über „die da oben“, die herablassend auf den gemeinen Menschen herunterblicken, ihn ungeschützt dem Wettbewerb aussetzen, seine Ersparnisse einem Zinsverlust aussetzen und Nachhaltigkeit oder Klimaschutz zur Frage des privaten Konsums erklären. Der Schutz der Grundrechte und das Managen des ökologischen und sozialen Verwandlungsdrucks sind staatliche Aufgaben.
Schnellere Pferde, Fluktuationsreserven und Steuerabschreibungen
Die entscheidende Größe für Siedlungsdarstellungen im Regionalplan ist nicht der aktuelle sondern der zu erwartende Bedarf. Vom Autopionier Henry Ford stammt der Satz „Wenn wir die Leute vor 100 Jahren gefragt hätten was sie wollen, hätten sie geantwortet: Schnellere Pferde!“. Fragt man heute einen Funktionär von Haus und Grund, was gegen den aktuellen Wohnungsmangel zu tun ist, lautet die Antwort „Mehr Bauland, weniger Bürokratie und eine Erleichterung bei den steuerlichen Abschreibemöglichkeiten“. Mit Bürokratie sind wohl auch die staatlichen Auflagen gemeint, die mit dem Leitgedanken der Nachhaltigkeit in Verbindung gebracht werden können. Wie werden Historiker*innen die Antwort wohl in 100 Jahren bewerten?
Wie viele Wohnungen müssen bis 2030 oder 2040 neu gebaut werden, um alle Menschen mit ausreichendem und bezahlbaren Wohnraum zu versorgen? Wo hoch ist der Neubedarf durch Zuzug, Haushaltsveränderungen oder Geburtenboom? Um diese Fragen zu beantworten, werten die Regionalplaner*innen die Prognosen von IT.NRW und des Bundesinstituts für Bau, Stadt- und Raumforschung aus. Wie hoch ist der Ersatzbedarf durch den Wegfall oder Abriss von Wohnungen? Im statistischen Schnitt hat sich zur realistischen Beantwortung dieser Fragen eine jährliche Quote von 0,2% des Wohnungsbestandes bewährt. Unter dem Stichwort Fluktuationsreserve wird analysiert, wie hoch der Wohnungsleerstand sein muss, damit Menschen umziehen können? 2% lautet hier die statistische Standardantwort. Im durchschnittlichen Wohnungsmarkt fallen also ohne Katastrophen und drastische Marktveränderungen zwei von Tausend Wohnungen jährlich weg. Zwei von Hundert sollten einem ausgeglichenen Wohnungsmarkt zur Verfügung stehen.
Ein Blick auf die Lage in Düsseldorf zeigt: Demografische Entwicklungen, Zuzüge und angeblich fehlende Flächenkapazitäten haben bereits jetzt zu erheblichen Abweichungen von diesen Durchschnittswerten geführt. Es gibt Lücken zwischen errechnetem Neubaubedarf und Baufertigstellungen. Überpropotionale Mietpreissteigerungen sind die Folge.
Klein, günstig und barrierefrei. Die prognostizierten Haushaltszahlen, die Wohnraumanalysen der NRW Bank und viele öffentlichen Äußerungen thematisieren seit Jahren diesen Bedarf. Doch selbst auf dem Land sind Wohnungen selten, die sich gleichermaßen als Erstwohnung für junge und als Letztwohnung für alte Singles und Paare eignen. Der Artikel „Deutschland baut zu wenige Wohnungen und die falschen“ fasste schon 2017 zusammen: „Die Ergebnisse machen deutlich, dass der Neubau nicht nur zunehmend hinter den Bedarf zurückfällt, sondern dass wir auch am größten Bedarf vorbei bauen“, sagt Wojtalewicz. Mieten und Wohnungspreise gerade für Zwei- und Drei-Raum-Wohnungen in Großstädten werden daher auf absehbare Zeit weiter steigen.“ Für Düsseldorf konstatiert der Artikel eine Bedarfsdeckung bei Einzimmerwohnungen von 5%.
Angesichts des geringen Zinsniveaus auf dem Finanzmarkt bietet die öffentliche Wohnraumförderung kaum Finanzierungsvorteile und damit wenig Anreize für private Wohnungsunternehmen entsprechenden Wohnraum zu erstellen. Die marktwirtschaftlichen Anreize, im gehobenen Segment des Immobilienmarkts sind attraktiver. Folge: die soziale Spaltung im Wohnungsmarkt und Aktionstage gegen Verdrängung und Mietenwahnsinn.
Seit 2004 sind die Aktivitäten im Wohnungsbau in Planungsregion Düsseldorf eher rückläufig und scheinen sich auf ein Niveau von 5.500 Wohnungen pro Jahr einzupendeln. Die Wohnungsbauintensität war dabei in den kreisangehörigen Gemeinden zum Beispiel im Jahr 2012 mit jährlich zwei neuen Wohnungen pro Tausend Einwohnern doppelt so hoch wie in den Städten. Die Relation war 1995 ähnlich. Nur wurden 1995 dreimal soviel neue Wohnungen gebaut wie 2012. Auch bei sinkender Bevölkerungszahl kann der Bedarf an Wohnungen steigen, denn entscheidend ist die Anzahl der Haushalte. Über die gesamte Region hinweg rechnen die Statistiker*innen mit einem deutlichen Anwachsen kleinerer und einem deutlichen Absinken größerer Haushalte. Auch wenn es kommunale Unterschiede gibt: der Anteil der älteren Menschen und –damit verbunden – der Anstieg der kleineren Haushaltsgrößen gilt immer noch als ein Haupttrend. Doch wer kann ausschließen, dass sich dieser Trend abschwächt, wenn viele WG-erfahrenen Babyboomer demnächst in Rente gehen?
Wie groß ist eine bedarfsgerechte Siedlungsfläche für 100.000 Wohnungen? Wie viele Wohnungen verträgt ein Hektar Siedlungsfläche? Über die sog. Dichtewerte für Wohneinheiten gibt es unterschiedliche Ansichten. Dass Wohnen in der Großstadt üblicherweise „dichter“ ist als Wohnen in einer ländlichen Gemeinde, wird wohl niemand bestreiten. Doch wie dicht ist eigentlich der derzeitige Siedlungsbestand in Düsseldorf, Velbert oder Dilkrath? Für diese Berechnung helfen Geoinformationssysteme (GIS), Zahlen aus dem Siedlungsmonitoring und Clusteranalysen. Für eine statistische Bedarfsberechnung, die von der gegenwärtigen Lage ausgeht, reicht es, Siedlungsflächen in den kommunalen Flächennutzungsplänen mit deren aktuellen Wohnbestand ins Verhältnis zu setzen. So ergibt sich zum Beispiel für Grefrath ein durchschnittlicher Dichtewert von 20 Wohneinheiten/Hektar, für Viersen einer von 31 Wohneinheiten/Hektar, während sich in Düsseldorf über 60 Wohneinheiten auf einem Hektar befinden. Auch bei den sog. siedlungsstrukturellen Dichten ist es sinnvoll, die Mittelwerte im Auge zu behalten. Die liegen laut der Düsseldorfer Regionalplanungsbehörde derzeit bei 46 Wohneinheiten/Hektar in den großstädtischen Oberzentren, in den kreisangehörigen Mittelzentren bei 31 und bei 21 in den gemeindlichen Grundzentren.
Wenn man den Stellplatzstandard für Autos reduziert, ist hohe Wohnqualität und gartenbezogenes Wohnen auch bei mittlerer bis hoher Baudichte von 50 bis 100 Wohnungen pro Hektar realisierbar. Dies zeigte eine Untersuchung des Deutschen Instituts für Urbanistik aus dem Jahr 2000.
Schon bei der Aufstellung des Regionalplans gab es unterschiedliche Ansichten zum Bedarf und zur Baudichte. Vor allem Kommunen aus dem Kreis Viersen hielten die von der Bezirksregierung vorgeschlagene durchschnittliche Zieldichte von 35 Wohneinheiten pro Hektar Bauland für viel zu hoch. Begründung: die Bevölkerung im ländlichen Raum wolle großzügig bauen. Die Vorgabe, zunächst innerörtliche Brachflächen, Baulücken und Flächenreserven zu entwickeln bevor neue Baugebiete ausgewiesen werden, sahen die Kommunen als Eingriff in ihre Selbstverwaltung. Das Ziel die über den Eigenbedarf hinausgehenden aber planerisch ausgewiesene Siedlungsflächen wieder dem Freiraum zurückzuführen, fand in den betroffenen Kommunen Nettetal und Viersen keine Zustimmung. Daher sollen sie jetzt auch Flächen für den Bedarf in und um Düsseldorf entwickeln. In den Bauleitplänen ausgewiesene Wohn- und Siedlungsflächen sind für kommunalen Entscheider offenbar immer noch Kapital für den interkommunalen Standortwettbewerb ums „Kopfgeld“.
„Nachhaltigkeit rocken“: Lebensverfügung für ein gepflegtes Alter
Für die Bevölkerungswissenschaftler kam er womöglich überraschender als für die allmählich ins Oma- und Opa-Alter kommenden Babyboomer: der Anstieg der Geburtenrate zwischen 2012 und 2016. Als Babyboomer gelten die Westdeutschen mit einem Geburtsdatum, aus den späten 1950er und frühen 1960er Jahren .Sie sind eine Folge des Zweiten Weltkriegs, des Wohnungsmangels durch Zerstörung, Flucht und Vertreibung oder des „Wirtschaftswunders“ . Ehen wurden geschlossen, um den Wirren und Unsicherheiten der Kriegs- und Nachkriegszeit zu entfliehen oder auch nur um eine gemeinsame Wohnung beziehen zu können. Vorehelicher Geschlechtsverkehr galt in den 1950er und 1960er Jahren als Unzucht. Wer einem unverheirateten Paar eine Wohnung vermietete, setzte sich dem Verdacht der Kuppelei nach dem damaligen § 180 Strafgesetzbuch aus. Die so genannte Antibabypille gab es noch nicht oder kollidierte in den späten 1960ern mit den Moralvorstellungen der herrschenden Mehrheit. Daher brachte 1965 eine durchschnittliche Frau 2,50 Kinder zur Welt, 1975 nur noch 1,45 und 1985 1,28. Nach dem „Babyboom“ folgte der „Pillenknick“.
Soll die Kindergeneration genauso stark werden wie die Elterngeneration, müsste eine Frau durchschnittlich 2,08 Kinder zur Welt bringen. Bevölkerungswissenschaftler*innen sprechen dann von einer 100-prozentigen Nettoreproduktionsrate. Über die möglichen Ursachen des Geburtenrückgangs sind viele Bücher geschrieben worden: Strukturwandel der Familie und Arbeitswelt, Sozialstaat, liebesverengte Paarbeziehungen oder chemisch erleichterte Promiskuität, Autoritätskritik, gesellschaftliche Kinderfeindlichkeit, Frauenbefreiung, Individualistische Lebensstile, Zukunftsängste, „links-grüne Sozialisationstheorien“ …
Die Babyboomer werden auch 2040 noch einen zahlenmächtigen demografischen Faktor darstellen. 23% der Menschen in der Planungsregion Düsseldorf sind zwischen 50 und 65 Jahre alt. Am geringsten ist der Anteil in Düsseldorf, am höchsten im Kreis Viersen. Dort leben fast 26% Babyboomer. Die Werbeindustrie entwickelt mit Blick auf die Babyboomer neue Werbestrategien, die Politikwissenschaft hat die Besonderheiten noch nicht analysiert.
Menschen aus den 1950ern und 1960ern stellen derzeit 54% des Deutschen Bundestags. Es sind die Babyboomer, die heute die Weichen für die Zukunft stellen. Dennoch gibt es erstaunlich wenig empirisch haltbare Untersuchungen zu den Sozialisationen und Werthaltungen Babyboomer, die zwischen „1968, „Willy wählen“, der „RAF“ und der „Emma“, den Berufsverboten, der Anti-AKW-Bewegung, den Punks und den Grenzen des Wachstums, dem kalten Krieg und der neoliberalen Wende erwachsen geworden sind. Ihre Lebensgefühle und ihre Wünsche im Alter unterscheiden sich von denen der Menschen, die in den 1930ern und 1940er geboren wurden. Deren - traumatische - Kriegs- und Nachkriegssozialisation war eine andere als die ihrer Kinder und Enkel, die mit dem Lebensmotto „Live fast, love hard, die young“ oder "No future" groß geworden sind.
Ob daher die derzeitigen statistischen Vermutungen zur Lebenserwartung, „Überalterung“, zum Kleinhaushalt oder zum Mobilitätsverhalten im Jahre 2040 Wahrheit werden, hängt von vielen noch unbekannten sozialen Faktoren ab.
Babyboomer haben keinen Krieg erlebt, keine materielle Not. Sie hinterfragen ihr Leben lang Normen, sorgen sich um Selbstverwirklichung und gelten als fordernd, fit, lebensfroh, technikaffin und anspruchsvoll. Sie prägen die Zivilgesellschaft und mischen sich ein – in Vereinen, Initiativen und Hilfsprojekten.
Ihr Lebensspiel vor 1989 war die „Reise nach Jerusalem“: zu enge Wohnungen, zu wenig Studien-, Ausbildungs- Freibad- und Arbeitsplätze. Die gesellschaftliche Decke für die westdeutschen Babyboomer war immer knapp und die Konkurrenz groß. Ihre Erwerbsbiografien sind häufig von Brüchen, prekären Beschäftigungsverhältnissen und Zeiten der Arbeitslosigkeit geprägt. Der Drang nach Neuem, Alternativem, nach Wachstum und Wohlstandsvermehrung war ebenso groß wie die Lücke, die diese Generation demnächst im Erwerbsleben hinterlassen wird.
Die derzeitigen Diskussionen um den Fachkräftemangel und das Renten- und Pensionssystem machen deutlich, welche Probleme die Babyboomer den Kommunen, der Wirtschaft und dem Sozialstaat in den kommenden zwei Jahrzehnten bereiten werden. Was bedeutet die Verrentung der zahlenstarken Jahrgänge für die kommunale Planung? Wie wird diese starke Generation, der „unbeaufsichtigten Draußenspieler und politfreakigen Selbstverwirklicher “ mit ihrem Lebensgefühl „einfach viele zu sein“ selbst umgehen? Welche Nachhaltigkeitspolitik betreibt eine „Ich will alles und zwar sofort“ – Generation? Es heißt „Wir haben die Erde von unseren Kindern nur geborgt.“ Manche gehen eben nur mit ihrem Eigentum pfleglich um.
Pflegebedürftige Babyboomer werden ein großes Problem. Können die Babyboomer derzeit ihre eigenen Eltern pflegen, werden sie selbst noch mehr auf „Fremdpflege“ angewiesen sein. Daher empfiehlt der frühere Viersener VHS-Direktor Erich Schützendorf den Babyboomern, schon jetzt eine „Lebensverfügung für ein gepflegtes Alter“ zu verfassen. Aus der Ankündigung für sein Buch: „Viele Menschen machen sich über den letzten Lebensabschnitt Gedanken und sorgen mit Patientenverfügung oder Betreuungsvollmacht vor. Selten denkt man an sein Recht auf Selbstbestimmung in Alltagsdingen. Kann man dann als Pflegebedürftiger seine Vorlieben nicht mehr äußern, werden andere entscheiden, was gut für einen ist. Die „Lebensverfügung“ lenkt den Blick auf das tägliche Wohlbefinden: Möchte ich weiter Schokolade essen, auch mit Diabetes? Möchte ich mein Glas Wein am Abend trinken, auch wenn es nicht gesund ist? Möchte ich lieber unterhalten werden oder einfach meine Ruhe? Amüsant und doch nachdenklich beschreibt der Autor Beispielsituationen und lädt die Leser mit Fragen dazu ein, ihre Wünsche für ein gepflegtes Alter aufzuschreiben.“ Wie eine junge europäisch geprägte Generation in 20 bis 30 Jahren mit selbstgerechten Lebensverfügungen - vor dem Hintergrund einer von den Babyboomern politisch durch Privatisierung der Pflege mit verursachten nationalen Nachhaltigkeitslücke - im Pflegebereich umgehen wird, ist offen. Auswirkungen auf das regionale Wanderungssaldo sind jedoch denkbar.
In ihrem Thesenpapier „Die Babyboomer gehen in Rente“ malen Karin Haist von der Körber-Stiftung und Reiner Klingholz vom Berlin-Institut für Bevölkerung und Entwicklung aus, „was das für die Kommunen bedeutet“. Sie befürchten eine kommunale Wohlstandsgefährdung durch den Fachkräftemangel und möglichen Immobilienleerstand in früheren ländlichen Neubaugebieten. Viele Babyboomer haben sich dort ihren Traum vom Eigenheim im Grünen erfüllt. Die Nachwuchs ist mittlerweile ausgezogen, die Immobilien sind wie deren Bewohner in die Jahre gekommen. Die auf „junge Familien mit Auto“ ausgerichtete kommunale Versorgungsstruktur passt spätestens dann nicht mehr, wenn die Bewohner*innen aus dem Erwerbsleben ausscheiden. Wenn die durch das Berufsleben geprägten sozialen Netze verloren gehen, droht Einsamkeit. Städtische Wohngemeinschaften mit Gleichaltrigen und Gleichgesinnten waren eine Erfindung der jungen Babyboomer. Sie könnten sie im Alter wiederbeleben wollen und die derzeitigen Wohnungsprognosen verschärfen. Sie sagen der Stadt Düsseldorf die größten Bevölkerungsgewinne und dem Kreis Viersen die größten Bevölkerungsverluste voraus.
Zwischen 2012 und 2016 stieg die Geburtenziffer von 1,41 auf 1,59 und gilt als ein Auslöser für die neuen demografischen Berechnungen. Aber auch das könnte ein Effekt der Babyboomer sein. Sie sind viele und ihre Geburtenziffer betrug im Schnitt 1,63 Kinder. Deren Töchter sind daher auch viele und heute in einem Alter, um Mütter zu werden. Wenn das statistische Bundesamt in einigen Jahren die „endgültige durchschnittliche Kinderzahl der Frauenkohorten“ für die Jahrgänge 1985 – 1995 veröffentlichen kann, wird der jüngste Anstieg der Geburtenziffer womöglich als statistischer Schatteneffekt der Babyboomer enttarnt. Dramatisch wird der Anstieg wohl ohnehin nicht werden. Im Jahre 2017 sank die Geburtenziffer wieder auf 1,57. Sie bleibt wohl weit davon entfernt, die Bevölkerung der Zukunft zu verjüngen.
Ob Babyboom-Mentalität oder Integrationspolitik: Hier wirken demografisch relevante Faktoren, die wir nur ansatzweise kennen, aber die auch die besten Statistikerinnen und Statistiker nicht verlässlich beziffern und vorhersagen können. Die bisherigen Erfahrungen im globalen und regionalen Standortwettbewerb um Arbeitskräfte und Steuerzahler*innen machen aber jetzt schon deutlich: die Gesetze des Waren- und Kapitalmarkts lassen sich nicht auf Ökosysteme, Menschen und Dienstleistungen übertragen.
„NRW wohnt LEG“ – Wohnen als nachhaltiges Geschäftsmodell
"Zeit für Lebensfreude – Selbstbestimmt den Ruhestand genießen". Das Motto der LEG-Immobilien zielt auf die Babyboomer. Das seit 2013 börsennotierte nordrhein-westfälische Unternehmen beschäftigt 1.311 Mitarbeiter, verfügt über 134.000 Wohnungen für 360.000 Bewohnerinnen und Bewohner in Nordrhein-Westfalen. Die Pressemitteilung zum Geschäftsbericht 2018 klingt nicht nach Wohnungsnot: „Die LEG Immobilien AG kann das Geschäftsjahr 2018 – wie erwartet – mit einer positiven Gewinn- und Wertentwicklung abschließen. Wesentliche Treiber für die positive Ergebnisentwicklung bleiben das strukturelle organische Mietwachstum, Effekte aus Akquisitionen in Kernmärkten sowie weiter rückläufige Zinsaufwendungen. Die positive fundamentale Entwicklung und die große Nachfrage nach Wohnimmobilien haben zudem auch zu einem deutlichen Wertzuwachs des Portfolios beigetragen.“
Auch die LEG arbeitet nach Kennziffern. Zum Beispiel nach denen der Brüsseler European Public Real Estate Association (EPRA), einer - im Gegensatz zu ATTAC -gemeinnützigen Organisation, die die Interessen der europäischen börsennotierten Immobilienunternehmen vertritt, anerkannte Leistungs-Benchmarks für die Unternehmen entwickelt und damit potenziellen Geldanlegern das Verständnis für Investitionsmöglichkeiten verschaffen will. Die Investition ins LEG-Immobilienportfolio scheint sich zu lohnen: „Der EPRA-Net Asset Value (ohne Goodwill) zum 31. Dezember 2018 liegt bei 96,10 Euro pro Aktie (31. Dezember 2017: 83,81 Euro pro Aktie), was einem Zuwachs von 15,0 Prozent entspricht.“ Nach Angaben der LEG „weiß der Kapitalmarkt die Attraktivität von Wohnungsbeständen in NRW gut einzuschätzen". In der „Fokusregion NRW" sei deshalb die LEG als drittgrößtes börsennotiertes Wohnungsunternehmen aus der deutschen Immobilienwelt nicht mehr wegzudenken.
Nicht nur für Anleger*innen, auch für die Mieter*innen gab es Zuwächse: Die Nettokaltmiete stieg zwischen 2017 und 2018 um 4,8% und bleibt wohl auf Wachstumskurs, denn das operative Ergebnis der LEG soll bis 2020 um knapp 12% wachsen. Der scheidende CEO Thomas Hegel kommentiert: “Wir sind stark in Nordrhein-Westfalen. Hier lässt es sich gut wohnen.“ Das gute Ergebnis erzielte die LEG-Immobilien weil oder obwohl sie im ersten Jahrzehnt ihres Bestehens nicht gebaut hat. Jetzt scheint der Markt reif, denn bis 2029 will die LEG 1.000 Wohnungen auf ihren eigenen Grundstücken in Köln, Essen und Hilden bauen. Finanzvorstand Eckhard Schultz, ein klassischer Babyboomer, kündigt laut Rheinischer Post“ vom 12. März 2019 an, dass die Mieten bei 12 € oder mehr pro Quadratmeter liegen werden. Selbst in öffentlich geförderten Neubauten müssten Mieter voraussichtlich 7,50 bis 8 € je Quadratmeter zahlen.
Die LEG ist nach eigenen Angaben Immobilienmarktführerin in NRW. Sie steht wie kaum jemand anderes für „marktkonforme Demokratie“. Die Gesellschaft entstand mitten in der Finanzkrise vor einem Jahrzehnt auf Betreiben der damaligen schwarz-gelben Landesregierung durch einen Verkauf der 1970 begründeten öffentlich-rechtlichen Landesentwicklungsgesellschaft für Städtebau, Wohnungswesen und Agrarordnung an so genannte Heuschrecken um den Whitehall Real Estate Funds und der US-Investitionsbank Goldmann Sachs. Es ging um einen Kaufpreis 781,1 Millionen Euro und ein wirtschaftliches Gesamtvolumen von 3,4 Milliarden Euro. Die LEG war verschuldet, aber das nordrhein-westfälische Preis- und Mietniveau galt damals im internationalen Vergleich als niedrig. Angesichts des wegen der Finanzkrise staatlich angekurbelten konjunkturellen Aufschwungs bestand damals Hoffnung auf baldige Mietsteigerungen. Die hohen Erwartungen der Investoren sind nicht enttäuscht worden. Einer der Profiteure ist Babyboomer Thomas Hegel, Geschäftsführer der Düsseldorfer Weiße Rose GmbH. Er verlässt Ende Mai seinen Posten als Chef des LEG-Immobilienkonzerns. Hat die Düsseldorfer LEG-Geschichte mit Nachhaltigkeit soviel zu tun wie die Düsseldorfer Weiße Rose mit den Geschwistern Scholl?
"Nachhaltigkeit entfesseln": Lebensverfügung für eine wundervolle Welt
Zentren stärken, Fläche sparen, Verkehr minimieren, bestehende Infrastruktur nutzen, ökologische und ökonomische Systemzusammenhänge erhalten und fördern, sinnvolle Funktionsräume schaffen … Es geht bei der bedarfsgerechten Raumplanung auch um gesellschaftliche Ansprüche und naturwissenschaftliche Gesetze. Der § 1 Abs. 5 des Baugesetzbuchs beschreibt das so:
„Die Bauleitpläne sollen eine nachhaltige städtebauliche Entwicklung, die die sozialen, wirtschaftlichen und umweltschützenden Anforderungen auch in Verantwortung gegenüber künftigen Generationen miteinander in Einklang bringt, und eine dem Wohl der Allgemeinheit dienende sozialgerechte Bodennutzung unter Berücksichtigung der Wohnbedürfnisse der Bevölkerung gewährleisten. Sie sollen dazu beitragen, eine menschenwürdige Umwelt zu sichern, die natürlichen Lebensgrundlagen zu schützen und zu entwickeln sowie den Klimaschutz und die Klimaanpassung, insbesondere auch in der Stadtentwicklung, zu fördern, sowie die städtebauliche Gestalt und das Orts- und Landschaftsbild baukulturell zu erhalten und zu entwickeln. Hierzu soll die städtebauliche Entwicklung vorrangig durch Maßnahmen der Innenentwicklung erfolgen."
Der Absatz 6 des Baugesetzbuchs zählt die bei der Baugebietsplanung zu berücksichtigende Kriterien auf: gesunde Wohnverhältnisse, soziale Stabilität, Auswirkungen auf Tiere, Pflanzen, Fläche, Böden, Wasser, Luft, Klima, biologische Vielfalt, Nutzung erneuerbarer Energien, Energieeffizienz, Luftqualität, die Belange der Wirtschaft, Versorgung und Mobilität.
Auch die Belange der Landwirtschaft sind bei der Flächenplanung zu berücksichtigen, wurden aber in den vergangen Jahren massiv vernachlässigt. Allein im Jahr 2017 verlor die Düsseldorfer Planungsregion 839 Hektar landwirtschaftlicher Fläche. Nutzungsgewinner waren u.a. Rohstoffabbau, Wohnen, Erholung oder Gewerbe. Den Bauern und Bäuerinnen „vor Ort“ geht es ähnlich wie vielen von der staatlichen Klima- und Nachhaltigkeitspolitik enttäuschten Bürgern und Bürgerinnen: In Sonntagsreden geht es um den Erhalt des lokalen bäuerlichen Betriebs, im politischen Alltag werden die Weichen in Richtung „globale Agrarindustrie und neokolonialistische Landnahme“ gestellt. Die Rede ist von 151 Millionen Hektar Ackerland , die die europäische Agrarindustrie außerhalb Europas nutzt.
Mit dem deutschen Babyboom vor gut 60 Jahren begann auch ein Siedlungsflächenboom. Seitdem hat sich die Siedlungs- und Verkehrsfläche in Deutschland verdoppelt. Der Babyboom ist zu Ende, die "indigene Bevölkerung" schrumpft. Doch der „Flächenboom“ geht weiter. Vor 14 Jahren wurde das Nachhaltigkeitsziel verabschiedet, bis 2020 die Neuinanspruchnahme von Flächen auf 30 Hektar pro Tag zu begrenzen. Es wird auch in den nächsten Jahren krachend verfehlt. Der letzte Umweltbericht der Landesregierung bescheinigt dem nordrhein-westfälischen Lebensstil, dass er derzeit 3,3 Erden verbraucht.
Ein Entfesselungspaket und Maßnahmenbündel zur Modernisierung des ökologischen Fußabdrucks hat die nordrhein-westfälische Landesregierung noch nicht angekündigt. Für die Regionalplanänderung zur bedarfsgerechten Baulandentwicklung gilt daher weiterhin die Forderung der Landesregierung Nachhaltigkeit vor Ort umzusetzen: „Städte, Gemeinden und Kreise spielen für die Umsetzung des Modells einer nachhaltigen Entwicklung in NRW eine zentrale Rolle. Durch die Nähe zu den Bürgerinnen und Bürgern sind es vor allem die Kommunen, die eine nachhaltige Entwicklung vorantreiben können.“
Den regional sehr spezifischen Herausforderungen zwischen dem prosperierenden Düsseldorf und den eher strukturschwachen Randzonen ist durch ein flexibeleres Instrumentarium Rechnung zu tragen als durch eine an den Eurovision Song Contest erinnernde Punktebewertung von potenziellem Bauland. Gesprochen werden muss über kommunale Innenentwicklung und die Nutzung von Vorkaufsrechten, über den Umgang mit Schrottimmobilien und Grundstücksspekulation, über Folgekosten und Paradoxien der ländlichen Einfamilienhausgebiete und nicht zuletzt über Nachhaltigkeitsdefinitionen in kommunalen öffentlich-rechtlichen und börsennotierten Wohnungsunternehmen.
Die eingangs gestellte Rechenaufgabe ist mit der einfachen Gleichung „Mehr Bauland = Mehr Wohnungen“ offenbar nicht zu lösen...