Mittwoch, 28.. November 2018
Abschied von fragwürdigen Weltbildern:
Mit homo oeconomicus in die Villa Kunterbunt
„Ich mach mir die Welt widde widde wie sie mir gefällt.“ Andrea Nahles` ebenso berühmte wie schräge Pippi-Langstrumpf-Gesangseinlage in der Bundestagssitzung vom 3. September 2013 sollte verdeutlichen: Weltbilder gelten als objektiv, sind es aber nicht, weil sie von Menschen gemacht sind. Weltbilder sind unterschiedlich und wandelbar. Noch im Mittelalter galt die Erde als flache Scheibe, obwohl Aristoteles schon drei Jahrhunderte vor unserer Zeitrechnung begründet hat, warum die Erde eine Kugel ist. Lange galt die Erde als Mittelpunkt eines geozentrischen Weltbildes, bis Kopernikus – im Widerspruch zur katholischen Lehre – die Sonne ins Zentrum eines neuen Weltbildes stellte.
Earthrise: Mittlerweile gilt der 24. Dezember 1968 als Tag der Geburt eines neuen Weltbildes. An diesem Tag schoss der NASA-Astronaut William Anders das wohl berühmteste Foto in der Geschichte der Raumfahrt: Den Erdaufgang. „Wir flogen hin, um den Mond zu entdecken. Aber was wir wirklich entdeckt haben, ist die Erde.“ Und diese Erde ist blau, winzig und schön, und alle Menschen sind Passagiere auf diesem verletzlichen Planeten." Das Foto gilt vielen als Geburtsstunde einer anderen Sicht auf die Welt und Beginn der globalen Umweltbewegung.
Patrick Brehm (Jg. 1970) hat in Saarbrücken Wirtschaftspädagogik und Anglistik studiert, ist Diplom-Handelslehrer, lebt in Wuppertal und unterrichtet Wirtschaftswissenschaften und Englisch an kaufmännischen Berufsschulen. Er veröffentlicht Presseartikel und betreibt die Homepage VWL-nachhaltig mit wertvollen Hilfen für die Wirtschaftslehrer*innen, für die Wirtschaft mehr ist als Herstellung, Verkauf, Kauf und Verbrauch irgendwelcher Produkte, deren Preis sich durch Angebot und Nachfrage auf einem freien Markt bestimmt. Auf seiner Homepage werden aber auch diejenigen fündig, die Zweifel an den Aussagen „der Wirtschaft“ haben. Brehms Zugang zu ökonomischen Phrasen und Weltbildern speist sich aus Wirtschaftswissenschaft, Linguistik und seinen täglichen Schulerfahrungen. Patrick Brehm hat 2015 im Auftrag der Düsseldorfer Agenda 21 die Studie „Didaktische Aspekte der Nachhaltigen Entwicklung in aktuellen VWL-Lehrbüchern in der schulischen Bildung" erstellt. Er ist Gründungsmitglied des Vereins BiWiNa – einer Initiative zur „Förderung der Wirtschaftskompetenz im Sinne einer Bildung für nachhaltige Entwicklung auf allen Ebenen der Bildung und bei allen Bildungseinrichtungen, die sich mit den Themen der Wirtschaft beschäftigen“. So steht es an der Satzung, anschaulicher unter „Dafür steht BiWiNa“ nachzulesen.
Patrick Brehms These: „Unsere heutigen ökonomischen Weltbilder werden geprägt durch wirtschaftswissenschaftliche Modelle, eine tradierte schulische Wirtschaftsdidaktik und den oft unreflektierten Sprachgebrauch in Medien und Alltag.“
Menschen, Staaten, Banken und Unternehmen
Weltbilder – für Patrick Brehm sind sie tatsächlich visuell und assoziativ gemeint. Bilder mit „rauchenden Schloten“ galten bis in die 1970er Jahre hinein als Zeichen des wirtschaftlichen Erfolgs. Solidität wurde mit Fabrikschornsteinen und Abgaswolken unter Beweis gestellt. Die fast heilig gewordenen Rauchfahnen der industriellen Produktivität standen lange Zeit für Fortschritt, Wohlstand und Optimismus. Heute sind die rauchenden Schlote eher ein Symbol für rücksichtslosen Materialismus und ökologische Bedrohung.
Ausgangspunkt klassischer Wirtschaftstheorien ist ein Menschenbild: der homo oeconomicus: ein rational abwägender Nutzenmaximierer, der effizient und mit egoistischen Präferenzen handelt. Auch wenn in der Literatur gelegentlich Zweifel angemeldet werden, grundsätzlich in Frage gestellt wird der menschliche Nutzenmaximierer nicht. Andere religiös, biologische, rechtliche oder philosophisch geprägte Menschenbilder wie „Kind der Schöpfung“, "calvinistischer Arbeitsethiker“, „Sinnstifter“, „Selbstreflektierer“, „Rechteinhaber“, „Seelenwesen“ oder „Sozialisations- und Evolutionsprodukt“ spielen in den Wirtschaftswissenschaften keine Rolle. Gemeinschaftsorientierte Gefühle bleiben beim homo oeconomicus ebenso unberücksichtigt wie destruktive Aggressionen und Einflüsse der Werbung oder des Framings. So bleibt das ökonomische Menschenbild eingeschränkt und theoretisch.
Ähnlich das Bild vom gewinnmaximierenden Unternehmen als schicksalhafte Stätte aller volkswirtschaftlichen Wertschöpfung. Im Mittelpunkt der gängigen Betrachtung stehen Umsatzerlöse, Rentabilität, zu motivierendes Humankapital, Effizienz oder Shareholder Value. Die Diskussion um gute Arbeit, Bullshit-Jobs, soziale Identität, Gruppenpsychologie oder Eigennutz bleiben "außen vor".
Auch das Staatsbild, das der klassische Wirtschaftsunterricht zeichnet, ist Brehm zu undifferenziert. Staat gilt in der nachfrageorientierten Volkswirtschaftslehre als ausgleichender Faktor. Sie geht auf John Maynard Keynes zurück. Nach ihrer Lehre sei es die Rolle des Staates, in konjunkturschwachen Zeiten die Nachfrage anzukurbeln. Angebotsorientierte, sich auf Milton Friedman berufene Lehren sehen den Staat eher als Störfaktor und Investitionshemmnis. Wenn Unternehmen hohe Gewinne machen, verbesserten sich automatisch die Bedingungen auf der Nachfrageseite – so die Theorie. Beide Richtungen zeichnen einen Vater Staat. Brehm: „Das politische System wird in den Wirtschaftswissenschaften behandelt wie ein Sonnenkönig. Was fehlt, ist die Analyse demokratischer Prozesse, die Rolle internationaler Organisationen oder supranationaler Institutionen.“ Umwelt- und Sozialpolitik, Nachhaltigkeitsstrategien oder Handelspolitik blieben meist ausgespart. Brehm: „Seit 50 Jahren unterrichten wir das „Magische Viereck“. Das magische Viereck beinhaltet vier wirtschaftspolitische Ziele, die die seit dem Stabilitätsgesetz von 1967 als Hauptziele der staatlichen Wirtschaftspolitik gelten:
- Hoher Beschäftigungsstand / Vollbeschäftigung (Arbeitslosenquote unter 3 %)
- Preisstabilität (Inflation unter 2%)
- Wirtschaftswachstum (BIP mit jährlichem Plus von 3 – 4 %)
- Außenwirtschaftliches Gleichgewicht (Importe und Exporte sind ausgeglichen)
Brehm: „Nachhaltigkeit, die Maastricht-Kritierien oder das neue Lieblingskind der Finanzpolitik, die 'Schwarze Null', spielen in diesem Zusammenhang keine Rolle, Dadurch vermittelt die Wirtschaftslehre Staatsbilder, die weit weg von der Realität sind. Das magische Viereck verklärt die staatlichen Institutionen zu Zauberern und ignoriert die internationale Ebene.“ Andere Nationen tauchten in der Wirtschaftslehre als einförmiger und monolithischer Block auf und würden allenfalls als Handelspartner oder Wettbewerber etwas differenzierter betrachtet. Da brauche man sich nicht über gesellschaftliche Diskussionen über (Export-)Weltmeisterschaften, Urlaubsziele, Abwanderung von Arbeitsplätzen und Zuwanderung von Flüchtlingen zu wundern.“
Das Bild der Banken, das die klassische Ökonomie zeichnet, habe mit der Realität wie sie spätestens 2008 offensichtlich wurde, auch wenig zu tun. Sie gelten immer noch als Kapitalsammelstellen für Ersparnisse und Ort der sekundären Geldschöpfung, in denen Kredite für Investitionen zur Verfügung gestellt werden. Brehm: Eigene unternehmerische Ziele der Banken oder ihre Aktivitäten auf den Finanzmärkten spielen in der Schulbuchökonomie keine Rolle.“ Ganz anders in den Medien: „Hier wird eher ein genauso schräges Bild von den Bankern als Abzocker und Profiteure des Kapitalismus gezeichnet.“
Wirtschaftssprache und Semiotik
Der Einfluss der Medien auf unsere Kopfbilder von Wirtschaft sei kaum zu überschätzen. „Wir müssen die Konjunktur ankurbeln“ zeichnet eine überdimensionale Maschine , die wir am Laufen halten können. „Geiz ist geil“ bestärkt das Bild des egoistischen Nutzenmaximierers. „Lassen Sie Ihr Geld für sich arbeiten“ verändert das Bild der Wertschöpfung durch menschliche Arbeit. Umstrukturierung sei ein Euphemismus für den Abbau von Arbeitsplätzen, „Hedge fonds“ hegen nichts ein, sondern sind eher mit großen Risiken verbunden. Eine in den 1970er noch mit Hoffnungen verbundene „Reform“ ist weckt heute Befürchtungen.
2013 bezeichnete der Schriftsteller Ingo Schulze die Dichotomie zwischen „Arbeitgeber und Arbeitnehmer“ als sein persönliches Unwort des Jahres. Schulzes Begründung zeigt exemplarisch die Absurditäten der Wirtschaftssprache.
Geht man von der grundlegenden Bedeutung von Arbeit als Leistung/Arbeitskraft aus, dann verkehrt das Wortpaar in dramatischer Weise die tatsächlichen Verhältnisse: Wer die Arbeit leistet, gibt, verkauft, wird zum Arbeitnehmer degradiert – wer sie nimmt, bezahlt und von ihr profitiert, zum Arbeitgeber erhoben. Die biblische Wendung „Geben ist seliger als nehmen“ klingt bei diesem Begriffspaar unterschwellig immer mit. Aber auch wer den Begriff Arbeit in seiner abgeleiteten institutionellen Bedeutung als Arbeitsstelle begreift – Arbeitgeber als jene, die die Arbeitsstelle zur Verfügung stellen, also „Arbeitsplätze schaffen“ –, unterschlägt, dass diese Arbeitsstelle (sei es die Maschine, der Bürotisch oder die Computersoftware) ja auch erst durch Arbeit geschaffen werden musste. Diese sprachliche Perspektivierung, die für eine bestimmte Denkhaltung steht (z. B. dass es ohne Arbeitgeber keine Arbeit gebe) und diese als die gültige zementiert, wurde schon von Friedrich Engels und Karl Marx kritisiert.
Zum Verhältnis zwischen realer Welt, Sprache, Bildern und Zeichen verweist Brehm auf den Schweizer Linguistiker Ferdinand de Saussure. Er gilt als Begründer der modernen Semiotik. De Saussure unterscheidet das Laut- oder Hörbild von der Vorstellung. Beides stehe aber in einem engen Zusammenhang. Erst die Verbindung von Form, Vorstellung und Lautbild lasse ein verstehbares Zeichen entstehen. Brehm veranschaulicht diesen Gehirnvorgang am Beispiel von Bildern und Vorstellungen von Katze und Kater.
So entstehe mediale Gehirnwäsche. Die Kopplung von Wachstum und Beschäftigung sei allgegenwärtig und tauche selbst im 8. Weltnachhaltigkeitsziel „Good Jobs and economic growth“ wieder auf. Dauerhaft ausgeblendet bleiben Wirtschaftsakteure, deren Leistungen nicht monetär berechnet werden: Familie, Care-Arbeit marktunabhängige Subsistenzwirtschaft . Die Feministische Ökonomie versucht die Blindheit des Bruttoinlandsprodukts für die nicht gemessene, entlohnte und registrierte Arbeit bei der Kindererziehung, beim Gärtnern, Waschen, Kochen, Putzen, Pflegen oder im ehrenamtlichen Engagement aufzuheben, findet aber an klassisch orientierten Volkswirtschaftslehrstühlen kaum Resonanz. Dies gelte auch für ökologisch orientierte Wirtschaftsmodelle wie cradle to cradle oder Gemeinwohlökonomie.
Was tun?
Für Patrick Brehm steht fest: „Wenn die ökonomische Bildung im Nachhaltigkeitsdiskurs bestehen will, braucht sie mehr Pluralität, mehr philosophische, ökologische und sozialwissenschaftliche Grundlagen und vor allem kritische öffentliche Bewertungen. Unternehmensbilder müssen differenzierter werden: nicht alle Betriebe verfolgen das Ziel der Gewinnmaximierung. Für internationale Konzerne geht es vielmehr um den Shareholder Value, den Börsenkurs, während sich inzwischen mehr und mehr kleine und mittlere Unternenehmen das Ziel der Gemeinwohlorientierung auf die Fahnen schreiben Wir müssen uns von der einseitigen Mathematisierung der Ökonomik verabschieden. Wirtschaftswissenschaften müssen die Vielfalt der wissenschaftlichen und religiösen Menschenbilder und der menschlichen Bedürfnisse aufnehmen. Neben Keynes und Friedman gehört auch Herman Daly in die Lehrbücher. Wir müssen uns von der Konjunkturfokussierung verabschieden und auch mal breit über andere Wirtschaftsmodelle, über Grundeinkommen oder fragwürdige Staatsziele wie die „Schwarze Null“ diskutieren. Anfänge gibt es:
- Netzwerk Plurale Ökonomik
- Gesellschaft für sozioökonomische Bildung und Wissenschaft
- BiWina - Initiative zur Förderung der Wirtschaftskompetenz im Sinne einer Bildung für nachhaltige Entwicklung
- LehrerInnen für Nachhaltige Entwicklung
Wie man ökonomische Weltbilder mit „integrierter Kommunikation“ hin zum „neoliberalen Denken“ verändern kann, hat die Initiative Neue Soziale Marktwirtschaft in den frühen 2000er Jahren gezeigt.
Es gibt Alternativen. Erwachsene Wirtschaftswissenschaftler*innen könnten sich von Pippi Langstrumpfs Möglichkeitssinn, ihrer Offenheit gegenüber Neuem, ihrer Zuversicht und ihrer Ablehnung des immer Gleichen inspirieren lassen. Am Ende steht dann vielleicht eine neue Villa Kunterbunt der Volkswirtschaft. Die transformative Lösung ist dann einfach. Man muss sie nur finden.