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09.01.2024
Bauernproteste: Fragen einer irritierten Esserin
8. Januar 2024: Ist es nur ein Zufall, dass die FAZ zu Beginn der bereits im vergangenen Jahr vom Bauernverband angekündigten Aktionswoche „Agrardiesel und Kfz-Steuerbefreiung“ (1) einen Artikel veröffentlicht, in dem der konservative Historiker Professor Dr. Andreas Rödder erneut das Ende der grünen Hegemonie (2) konstatiert? Gilt für Aktionswoche und Zeitungsartikel der Satz des DBV-Flyers: „der Rückhalt in der Bevölkerung ist großartig, enorm wichtig und muss noch weiter bestärkt werden“? Was hat das mit den Anschlägen auf lokale Parteibüros zu tun? Welche Rolle spielen eigentlich Kampagnen, Stimmungsbilder und Meinungsumfragen in einer Demokratie? Was unterscheidet einen Treckerfahrer von einem Klimakleber? Um welche persönlichen Interessen und um welche übergeordneten gesellschaftlichen Ziele geht es bei den Treckerdemos? Hat der Bauernverband die Deutungshoheit über die Landwirtschaft?
Was gilt; die Feststellung der Kinder der Amerner Kindertagesstätte Hoferland an die demonstrierenden Bauern: „Ohne Euch haben wir kein Essen“? Oder gilt die Botschaft eines Bauern an seinem Demo-Trecker „Ist der Bauer ruiniert, wird Dein Essen nur noch importiert! Du entscheidest am Regal!“ Wer entscheidet eigentlich darüber, welche Lebensmittel in welchen Regalen angeboten werden?
Gibt es überhaupt die Landwirtschaft? Was haben Schweinezucht und Weinbau gemeinsam? Wie unterscheiden sich die Lieferketten und die Absatzmöglichkeiten? Kann es überhaupt eine kohärente Gesamtstrategie in der Landwirtschaftspolitik geben? Wie berechnet man den Tauschwert für verderbliche Gebrauchswerte? Welche Rolle spielen das Wetter und der Kampf um Fläche? Wann proklamiert der Deutsche Bauernverband das Ende der agrarindustriellen „Grünen Revolution“? Ist sie die Ursache oder die Lösung der landwirtschaftlichen Misere?
Wann werden die Jungbauern durch Drohnen, Roboter und Künstliche Intelligenz gesteuert? Wer wird die Algorithmen entwickeln?
Warum wirtschaften Landwirte auf eigene Rechnung und zum eigenen Vorteil, sind aber dauerhafte Kostgänger der Staatskasse? Warum profitieren immer noch die flächenstarken Großbetriebe von den EU-Agrarsubventionen? Gehört die Zerstörung der eigenen Lebensgrundlagen zwingend zu einer wettbewerbsfähigen Landwirtschaft? Was wäre, wenn Landwirte im Öffentlichen Dienst beschäftigt werden? Welche Rolle würden dann Banken, Konzerne, Pestizidproduzenten, Landmaschinenhersteller, Molkereien, Lebensmittelhändler oder Saatgutmonopolisten spielen?
Wieso gehören angemessene Unterbringung, ausreichend Platz, Futter und Wasser nicht zum tierethischen Mindeststandard? Warum scheitern die Ideen zu einer anderen Landwirtschaft? Ist die industrielle Landwirtschaft eine Fluchtursache, weil sie kleinbäuerliche Lebensgrundlagen in den Herkunftsländern der Migranten zerstört? Welche Rolle spielt sie bei Erosion des dörflichen Landlebens? Welche Erfolge haben die Blühstreifenprogramme?
Warum streicht die Ampelregierung die Diesel-Vergünstigungen nur für den Agrarbereich und nicht für alle? (3) Warum kann sich eine ökologische Landwirtschaftspolitik nicht durchsetzen? Hat sich der Bauernverband mit seinem jahrelangen Widerstand gegen schärfere Umweltauflagen in eine aussichtslose Ecke gesteuert? Kann es einen wettbewerbsfähigen Agrarmarkt geben, der Ernährung sichert und die natürlichen Lebensgrundlagen stärkt? Ist es klüger, an an den vertrauten Ideologien über die beste aller möglichen Wirtschaftsweisen zu zweifeln, anstatt sich über unverantwortliche Bauern und Brüsseler Bürokraten aufzuregen? (4)
Welches Potenzial steckt im bäuerlichen Traditionsbewusstsein? Welche Rolle spielen das bäuerliche Korpsdenken oder eine tief verwurzelte Wachstumsideologie? Was wird aus den Vorschlägen der Zukunftskommission Landwirtschaft? Was können Niederlande und Deutschland im „Krieg gegen die Natur“ voneinander lernen?
Wie stabil bleiben die Ökosysteme und die Gesellschaften? Kann die Polykrise überhaupt noch zu Ende gehen?
Zum Hintergrund
Die industrielle Landwirtschaft ist eine der wichtigsten Ursachen für Klimawandel, Artensterben, Umweltverschmutzung, Wasserknappheit, Armut und Ungerechtigkeit. Das stellte der unbequeme und alarmierende Weltagrarbericht im Jahre 2008 fest (5).
Lutz Ribbe, Leiter der Umweltpoltischen Abteilung der Stiftung Europäisches Naturerbe (EURONATUR) hatte bereits 2002 in der Zeitschrift „Aus Politik und Zeitgeschichte (APuZ)“ einen Text zur Agrarwende. (6) veröffentlicht. Von 2016 – 2019 wirkte Ribbe in der Kommission Landwirtschaft am Umweltbundesamt mit (7). Auch die hat eindeutige Positionspapiere zu nachhaltigen Agrar- und Ernährungssystemen verfasst.
Am 24. November 2023 beschloss die Vollversammlung des Zentralkomitees der deutschen Katholiken ihre Resolution „Ernährungs- und Agrarwende jetzt“ (8), in der sie unter anderem des in der Zukunftskommission Landwirtschaft (ZKL) mühsam erreichten Kompromisses fordern. Zentrale Akteurinnen und Akteure aus Landwirtschaft, Umweltverbänden, Wirtschaft, Verbraucherschutz und Wissenschaft 10 Monate über die Zukunft der deutschen Landwirtschaft als gesamtgesellschaftliche Aufgabe diskutiert und am 29. Juni 2021 mit einem Abschlussbericht gemeinsame Leitlinien und Empfehlungen vorgeschlagen (9).
Die ZKL entwickelte dabei drei Nachhaltigkeitsszenarien und kontrastierte sie mit einem Szenario X, in dem „alles so weitergeht wie bisher“. Die Folge: Kipppunkte werden überschritten, der landwirtschaftliche Raum verliert endgültig seine Erholungsfunktionen, Bestäubungsleistungen gehen verloren, das Artenspektrum wird verschoben, invasive Schädlingsarten und Pandemien nehmen zu, Tierhaltung wird ins Ausland verlagert, der Landverbrauch außerhalb der EU für Agrarprodukte, die Deutschland konsumiert werden nimmt zu, es kommt zunehmend zu einer Spaltung zwischen Landwirtschaft und Gesellschaft. Der Anteil Convenience-Produkte und der industriell verarbeiteten Nahrungsmittel nimmt zu, die Lebensmittelkennzeichnung ist unübersichtlich und die Schere im ernährungsabhängigen gesundheitlichen Status öffnet sich weiter.
Die Kommission plädiert dafür, für und mit der Landwirtschaft einen nachhaltigen und verlässlichen Entwicklungspfad zu verfolgen, der den Dringlichkeiten beim Klimaschutz gerecht wird, Biodiversität wieder herstellt, Luft und Wasser sauber hält, den Tierschutz wahrt, die Standards im internationalen Handel angleicht und die Einkaufsmacht der Handelsunternehmen eindämmt. (9)
Seit 1993 gibt das Agrarbündnis (10) jedes Jahr einen kritischen Agrarbericht heraus. Er bietet eine Fülle von Informationen darüber, wie in der Landwirtschaft fast alles mit allem zusammenhängt, und warum sich die industrielle Landwirtschaft so schwer damit tut, die menschlichen Bedürfnisse nach einer gesunden und ethisch vertretbaren Ernährung zu befriedigen (11)
Ein Grund sind die Interessenverflechtungen beim Deutschen Bauernverband. Seit 2002 versucht der Naturschutzbund Deutschland (NABU) die Lobbyverflechtungen in der Landwirtschaft transparent zu machen. Bis heute ist zu beobachten, wie Ansätze einer nachhaltigen Agrar- und Umweltpolitik verhindert und verwässert werden.
Plattformen wie das Forum Moderne Landwirtschaft e.V. (FML) (12) und die Verbindungsstelle Landwirtschaft-Industrie e. V. (VLI) (13) oder die Deutsche Landwirtschaftsgesellschaft e. V. (DLG) (14) dienen als Netzwerkknoten, um alle wichtigen landwirtschaftlichen Akteure und Institutionen untereinander zu verknüpfen und mit den wichtigen Unternehmen der Agrochemie zu verzahnen. In seiner jüngsten „Verflechtungsstudie“ (15) zeigt der NABU, wie eine vergleichsweise kleine Akteursgruppe von Multifunktionären (Landwirtschaftsverband, Landwirtschaftliche Rentenbank, Deutscher Raiffeisenverband, Südzucker AG, Bayer CropScience Deutschland GmbH) strategisch die politische Willensbildung beeinflusst. „Die verfolgten Ziele und Interessen von Unternehmen aus der Finanz- oder Agrar- und Ernährungswirtschaft dürften kaum in Einklang mit denen einer bäuerlichen Landwirtschaft stehen.“ (15)
Verweise
1. Deutscher Bauernverband. Flyer zur Aktionswoche. [Online] https://www.bauernverband.de/fileadmin/user_upload/dbv/termine/2024/Aktionswoche_Januar_Flyer.png
2. Andreas Rödder. Das Ende der grünen Hegemonie. Frankfurter Allgemeine Zeitung. 8. Januar 2024 [online] https://zeitung.faz.net/faz/politik/2024-01-08/das-ende-der-gruenen-hegemonie/979031.html
3. Deutschlandfunk. Das sagen Experten zum Abbau von Agrardiesel-Subventionen. [Online] 7. Januar 2024. https://www.deutschlandfunk.de/das-sagen-experten-zum-abbau-von-agrardiesel-subventionen-100.html
4. GegenStandpunkt 1-04. Landwirtschaft im Kapitalismus. [Online] https://de.gegenstandpunkt.com/artikel/landwirtschaft-kapitalismus
5. Weltagrarbericht. [Online] https://www.weltagrarbericht.de/
6. Lutz Ribbe. Die Wende in der Landwirtschaft. [Online] 26. Mai 2002. https://www.bpb.de/shop/zeitschriften/apuz/26226/die-wende-in-der-landwirtschaft/
7. Umweltbundesamt. Die Kommission Landwirtschaft. [Online] 15. September 2022. https://www.umweltbundesamt.de/themen/landwirtschaft/landwirtschaft-umweltfreundlich-gestalten/die-kommission-landwirtschaft-am-umweltbundesamt
8. Zentralkomitee der deutschen Katholiken. „Ernährungs- und Agrarwende jetzt!“. [Online] 24 . November 2023. https://www.zdk.de/veroeffentlichungen/erklaerungen/detail/-Ernaehrungs-und-Agrarwende-jetzt–328U/
9. Zukunftskommission Landwirtschaft (ZKL). Zukunft Landwirtschaft. Eine gesamtgesellschaftliche Aufgabe. [Online] 29. Juni 2021. https://www.bmel.de/SharedDocs/Downloads/DE/Broschueren/abschlussbericht-zukunftskommission-landwirtschaft.pdf?__blob=publicationFile&v=14
10. Agrarbündnis. Mitglieder des AgrarBündnis e.V. [Online] https://agrarbuendnis.de/ueber-uns/mitgliedsverbaende
11. Agrarbündnis. Der kritische Agrarbericht. [Online] https://kritischer-agrarbericht.de/
12. Forum moderne Landwirtschaft. [Online] https://www.moderne-landwirtschaft.de/
13. Verbindungsstelle Landwirtschaft-Industrie e.V. [Online] https://www.vli-agribusiness.de/home
14. DLG - Deutsche Landwirtschafts-Gesellschaft. [Online] https://www.dlg.org/de/
15. Naturschutzbund (NABU) und Institut Arbeit und Wirtschaft (IAW). Verflechtungen und Interessen des Deutschen Bauernverbandes (DBV). [Online] April 2019. https://www.nabu.de/imperia/md/content/nabude/landwirtschaft/agrarreform/190429-studie-agrarlobby-iaw.pdf
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