Donnerstag, 19. Mai 2022
„Auf Sicht und mit Beinfreiheit“ – Die Region vor dem Start einer „NRW-Zukunftskoalition“
NRW-Wahl 2022: Schwarz-Gelb ist abgewählt, Rot-Grün hat keine Mehrheit. Der NRW-Lindner-Effekt von 2017 ist ebenso verpufft wie der Scholz-Bundeszauber von 2021. Der Abstand zwischen CDU und SPD war am Ende größer als in den Umfragen beschrieben. Eindeutig gewonnen haben die Grünen. Doch selbst sie haben am 15. Mai 2022 in NRW 287.487 Stimmen weniger erhalten als bei der Bundestagswahl am 26. September 2021. Doch noch sind Baerbock, Habeck & Co populär. Noch profitieren die Grünen von ihrem „Kurs in die Mitte“. Ihre Machtbasis aus Mandaten, Mitgliedern und Wahlzustimmung hat sich in den letzten Jahren verbreitert – in den Städten und auch auf dem Land. Rund 260.000 frühere SPD-Wähler*innen haben am 15. Mai 2022 Grün gewählt.
Der ehemalige grüne Landtagsabgeordnete Roland Appel ruft daher das "Ende der Bonner Republik" aus. Die Grünen bekämen es mit einer CDU zu tun, die beweglicher als die SPD und weniger in alten RWE-Strukturen verhaftet sei. (1) Ob das auch für das traditionell eher schwarze Rheinische Revier zutrifft, wird sich zeigen. Die CDU hat dort 40,6 % (Landesergebnis 35,7%) der Stimmen geholt, die Grünen 16,2 % (Landesergebnis 18,2%) und RWE nimmt immer noch eine Sonderrolle ein.
Die grüne Spitzenkandidatin Mona Neubaur spricht von „großem Respekt“, „riesigem Vertrauensvorschuss“ und „harter Arbeit“. Die Herausforderungen des nordrhein-westfälischen Strukturwandels zeigen, dass es wenig Anlass für grüne Euphorie gibt. Vertrauen kann man erhalten. Vertrauen kann man verlieren…Apropos: Wer übernimmt im Sommer das Schulministerium?
Koalitionsalptraum und Krise
Die Wahlkampagnen zur NRW-Wahl waren weder mitreißend noch verständlich. „Von hier an grün“ – „Machen worauf es ankommt“ „Klimaschutz gemeinsam bewegen.“ „Für Euch gewinnen wir das morgen“, „Weil besser möglich“… Die Rede war von einer „Überakzentuierung des Banalen“ im nordrhein-westfälischen Wahlkampf. (10) Große Streitthemen fehlten. Inflation oder Ukrainekrieg sind keine klassischen Landesangelegenheiten. Inhaltlich und personell gab es kein überragend attraktives Angebot.
Die Wahlbeteiligung hat mit 55,5 Prozent einen Tiefpunkt erreicht. Regionale Armuts- und Wohlstandssituationen korrelieren mit den Beteiligungszahlen. Nichtwähler*innen bieten immer noch ein weites Feld für Spekulationen und politische Instrumentalisierung. Verabschieden sich die Menschen mit kleinen Portemonnaies dauerhaft aus dem politischen System, weil ihre Interessen politisch nicht mehr vertreten werden? Vertrauen die Nichtwähler*innen den Parteien oder trauen sie ihnen immer weniger zu? Und dann gibt es auch noch den Spontispruch „Wenn Wahlen was verändern würden, wären sie verboten”.
Hendrik Wüst möchte ein schwarz-grünes „Zukunftsbündnis auf Augenhöhe“ schmieden und hat dazu am 18. Mai 2022 mit einer Delegation der Grünen ein „erstes gutes Gespräch in einem guten Geist“ (2) geführt. Zentrale Themen für die CDU sind dabei die "Versöhnung von guten Industriearbeitsplätzen und Klimaschutz, beste Bildungschancen für unsere Kinder, innere Sicherheit und moderne Mobilität". Zu einem vorgezogenen Kohleausstieg hat sich Wüst bereits in seiner Regierungserklärung am 3. November 2021 bereit erklärt: „Für mich ist klar: Wir sind in Nordrhein-Westfalen zu einem Ausstieg aus der Kohle auch schon 2030 bereit und wollen alles dafür tun, dass uns das gelingt.“ (3)
Wie wird eine grünkonservative Koalition in der Breite der Parteien bewertet? Wird im Herbst 2022 unter einer schwarz-grünen Koalition Lützerath geräumt? Mit Elektroschockpistolen? „Folgt jetzt ein Koalitionsalbtraum?“ fragt Politikredakteur Martin Bewerunge mit Blick auf die „NRW-Ampel“ als eine mögliche Koalitionsalternative. (4). Ein solcher Albtraum gilt derzeit als eher unwahrscheinlich.
Aber ein anderer könnte eintreten: „Kohlekrise, Stahlkrise. Sinnkrise. Seit ich denken konnte, waren die Strukturen im Wandel – bevor sie verschwanden“ schreibt der Autor Christoph Höhtker. (5) Er ist 1967 in Bielefeld geboren, hat dort Soziologie studiert und lebt seit 2004 in Genf. Höhtker hält es für erstaunlich, wie beiläufig der Riese NRW seinen Niedergang hingenommen hat. Höhtker räumt zwar ein, dass sein Bild ungerecht oder sogar falsch sein könne. Dennoch bleibt NRW für ihn ein Tanker, der es nicht mehr schafft, die Richtung zu wechseln: „Dabei bemühte man sich ja. Man tat und machte, man hatte sozialdemokratische Ideen. In den Sechzigern ließ man neue Denkfabriken rauchen, in den Achtzigern schüttete man schüchterne Innovationsinseln auf. In einem Meer regionaler Vergeblichkeiten.“ (5)
Strukturwandel und Wirtschaftswunder
In NRW debattiert man über den Strukturwandel, ohne über die Struktur zu reden. Nach den marktradikalen Entfesselungsmissverständnissen soll jetzt was Neues, Nicht-Sozialdemokratisches anfangen. Was genau es ist, weiß man noch nicht. Die grüne Spitzenkandidatin Mona Neubaur sprach von einem grünen Wirtschaftswunder und einer klimaneutralen, sozialen und digitalen Zukunft Nordrhein-Westfalens. In einem Autorinnenpapier hat sie gemeinsam mit Wibke Brems ein Klimaschutzsofortprogramm verfasst. Es soll NRW zur ersten klimaneutralen Industrieregion machen und damit die existenzielle Frage entscheiden, ob NRW eine Zukunft als Industrieland hat. (6)
Der Berliner Historiker, Filmemacher und Journalist Lennart Laberenz hat sich auf eine Recherchetour in ein „konturfrei“ erscheinendes Rheinische Revier begeben: Bergbau, Kraftwerke, Europas größte zusammenhängende Aluminiumindustrie, dazu viel chemische Industrie und Lebensmittelproduktion. In einer Reportage schildert er, wie im Revier Akteure versuchen, die Vergangenheit in Zukunft umzuwandeln, welche Rolle dabei RWE und das Bergrecht spielt, wie Interessen von Unternehmen, Politik und Verwaltung fest verschmolzen sind, und warum sich die Politik nicht traut, Eingriffe in die Natur zurückzubauen, Flächen zu entsiegeln, Energieversorgung dezentral zu organisieren und Wirtschaftspolitik darauf auszurichten, dass Ressourcen endlich sind. Im Rheinischen Revier könnte sich entscheiden, „was den Begriff des Strukturwandels in Deutschland ausmachen soll. Wer davon profitiert, wer verliert. An wem man vorbeikommen muss.“ (7)
Globalisierung, Welthandel, günstige Energie- und Rohstoffkosten galten in der Vergangenheit als Treiber für die exportorientierten industriellen Unternehmen des Rheinischen Reviers. Es ist Europas größter CO2-Emittent und wird maßgeblich von Entscheidungen im DAX-Konzern RWE beeinflusst. Keine Energiequelle setzt soviel Schadstoffe frei wie die immer noch gewinnbringend geförderte Braunkohle. Der Zeitdruck in der Klimapolitik ist immens. Das Revier zu transformieren und dessen Industrie robust und klimaneutral zu gestalten, ist eine ernsthafte Herausforderung mit globaler Dimension.
Sind dafür Vereinigungen wie die Perspektive.Struktur.Wandel GmbH (8) oder die Task Force Sonderplanungszone (9) das geeignete Forum? Ist die Bevorratung von Gewerbeflächen ein adäquates Mittel? Welche Rolle wird zukünftig die Zivilgesellschaft im Strukturwandel spielen? Wie wird mit der Zukunftsagentur Rheinisches Revier, der Metropolregion Rheinland oder den Regional- und Kommunalpolitiken vernetzt? Welche Dynamiken werden RePowerEU, der Green deal, die Energiekooperation der Nordseestaaten oder die bundesdeutsche Energie- und Wirtschaftspolitik in der Region auslösen? Wie durchsetzbar sind die Planungs- und Genehmigungsbeschleunigungen für die erneuerbaren Energien? Haben der Ukraine-Krieg, die Energiefrage und die Inflation mit Landespolitik wenig zu tun, wie der Duisburger Politikwissenschaftler Professor Dr. Achim Goerres meint? (10) Wie lassen sich globale Wirtschaftskrisen regional abmildern?
Abhängigkeit und Überblick
Alte Machbarkeitsanalysen lösen sich derzeit in Luft auf. Die Welt ist noch unkalkulierbarer geworden, die Erwartungen sinken, die Lieferengpässe wachsen. Die Warnungen vor einer globalen Stagflation werden lauter. Obwohl die globalen Herausforderungen wie Klima- und Rohstoffgerechtigkeit, Pandemie, die Verschmutzung der Weltmeere oder die Zerstörung von Artenvielfalt und natürlichen Kreisläufen globale Kooperation erfordern, geht es derzeit um Konfrontation und Nationalismus. Die geopolitischen Spannungen sind so groß wie lange nicht mehr. Das imaginäre globale Netz über alle kulturellen und politischen Grenzen hinweg ist gerissen. Westliche Weltbilder, Risikowahrnehmungen und Kostenrechnungen stehen auf dem Prüfstand. Warenströme hatten schon immer eine moralische Dimension...
Die Unsicherheit wächst. Wie gehen die US-Zwischenwahlen im November 2022 aus? Welche geopolitische und wirtschaftliche Agenda wird der 20. Parteitag in China verhandeln? Wichtige Segmente der Lieferketten für Windturbinen und Solaranlagen befinden sich in chinesischer Hand. Was ist, wenn sich die Spannungen zwischen USA/Europa und China verschärfen? Tauscht die Energiewende die Erpressbarkeit durch Russlands autoritäres Regime in eine Abhängigkeit vom autoritären China ein? Wie können Staaten und Unternehmen zukünftig zusammenarbeiten? Welche Fallen und Risiken gibt es für das rheinische Geschäftsmodell? Was ist mit dem Mangel an Fachkräften, Rohstoffen und Vorprodukten? Wie entwickeln sich die Energiepreise? Was wird aus dem europäischen green deal? Wie gehen Politik und Bürger*innen mit dem Konflikt zwischen Klima- und Artenschutz um? Was ist gutes Wirtschaften im 21 Jahrhundert? Wie sind die langfristigen Prioritäten? Was ist mit den Nachhaltigkeitszielen?
Es gibt die These, wonach sich das Land so wenig wie möglich in die Wirtschaft einmischen sollte, aber der Ruf der Wirtschaft nach geeigneten Rahmenbedingungen, nach einer Energiewende mit Planungssicherheit ist mittlerweile ziemlich laut.
Zwischen dem Status Quo und einer wünschenswerten Zukunft liegen all die Veränderungen, die mit Aufwand, Kosten und Einschränkungen umschrieben werden. Schafft das Ausprobieren nachhaltiger Lösungen langfristig womöglich mehr Sicherheit als der Verbleib im Gewohnten? Wann enden die Zeiten, in denen wir erst mit viel privatem Geld auf Wachstum des Bruttoinlandprodukts setzen, um danach mit noch mehr öffentlichem Geld die dadurch entstandenen sozialen Verwerfungen und ökologischen Schäden zu beheben? Wann verabschieden wir uns von einem System, das Gewinne privatisiert und Verluste sozialisiert?
Die Berliner Fortschrittskoalition und eine nordrhein-westfälische Zukunftskoalition werden andere Antworten liefern müssen als vor der NRW-Wahl. Lennart Laberenz verweist auf Tolstoi. Der hatte in „Krieg und Frieden“ geschrieben, „dass der Mensch wenig verstehe, weil er keinen Überblick habe.“ (7) Aus den Pandemie- und Kriegszeiten und dem damit verbundenen Wandel der öffentlichen Debatten konnte man lernen, dass bei fehlendem Überblick zwar auf Sicht, aber mit ungeahnter politischer Beinfreiheit regiert werden kann.
Verweise
1. Appel, Roland;. Ende der Bonner Republik – in NRW. Beueler Extradienst. [Online] 16. Mai 2022. https://extradienst.net/2022/05/16/ende-der-bonner-republik-in-nrw/
2. Striewski, Rainer; Teigeler, Martin;. Abtasten zwischen CDU und Grünen. tagesschau.de. [Online] 18. Mai 2022. https://www.tagesschau.de/regional/nordrheinwestfalen/nrw-regierungsbildung-101.html
3. Regierungserklärung des Ministerpräsidenten des Landes Nordrhein-Westfalen Hendrik Wüst MdL. [Online] 3. November 2021. https://www.land.nrw/sites/default/files/asset/document/2021-11-03_regierungserklarung_mp_hendrik_wust.pdf
4. Bewerunge, Martin: Von der Wahl zum Wirrwarr. 17. Mai 2021, Rheinische Post, S. A 2
5. Höhtker, Chistoph;. Ihr in NRW. TAZ am Wochenende. [Online] 14./15.. Mai 2022. https://taz.de/Wahlen-in-Nordhrein-Westfalen/!5852007/
6. Neubaur, Mona; Brems, Wibke;. Das grüne Klimaschutzprogramm. Wir machen NRW zur ersten klimaneutralen Industrieregion Europas. [Online] https://gruene-nrw.de/das-gruene-klimaschutzsofortprogramm/
7. Laberenz, Lennart. Strukturwandel in NRW: Was kommt nach dem Kohle-Bergbau? Der Freitag 19/2022. [Online] 11. Mai 2022. https://www.freitag.de/autoren/lennart-laberenz/landtagswahl-in-nrw-was-kommt-nach-dem-kohle-bergbau
8. RWE und Ministerium für Heimat, Kommunales, Bau und Gleichstellung des Landes Nordrhein-Westfalen. Landesregierung Nordrhein-Westfalen und RWE gründen gemeinsame Gesellschaft: Power-Standorte sollen großes Potenzial im Rheinischen Revier entfalten . [Online] 21. Februar 2022. https://www.rwe.com/-/media/RWE/documents/07-presse/rwe-power-ag/2022/2022-02-21-landesregierung-nrw-und-rwe-gruenden-gemeinsame-gesellschaft.pdf
9. Bezirksregierung Köln. Startschuss für die Zukunft des Rheinischen Reviers. [Online] 9. Februar 2022. https://www.bezreg-koeln.nrw.de/brk_internet/presse/2022/008/index.html
10. Leubecher, Marcel: Schwache Wahlbeteiligung aus Desinteresse? - 17. Mai 2022, DIE WELT, S. 5.
11. Grimberg, Steffen;. Landtagswahlkampf in NRW - Wer hat das schlimmste Deutsch? TAZ. [Online] 6. Mai 2022. https://taz.de/Landtagswahlkampf-in-NRW/!5852793/