Freitag, 1. Juli 2022
Stadtflucht oder neue Landlust? - Über eine Studie des Berlin-Instituts und der Wüstenrot-Stiftung
Der Politologe und Journalist Udo Knapp hält Dörfer und Kleinstädte jenseits der Metropolen für verloren und fordert eine Abkehr vom Ziel der Entwicklungsgerechtigkeit für die Dörfer. Fördermaßnahmen für die Gleichstellung des ländlichen Raums durch Zunahme der Bevölkerung in schrumpfenden Regionen lehnt Knapp ab. Im 21. Jahrhundert habe nur das Leben in der Stadt „eine rundum menschenwürdige Zukunft“. (1)
Vor zehn Jahren schienen die Statistiken Knapps provokant wirkende Forderungen zu unterstützen: Ländliche Gemeinden hatten mit Abwanderung zu kämpfen. Junge Menschen verließen die Dörfer und Kleinstädte. Großstädte wuchsen auf Kosten der ländlichen Regionen. Die verbliebenen bäuerlichen Landwirte klagten über Perspektivlosigkeit…
Jetzt ist von einer Trendumkehr die Rede. Es scheint, als würde der ländliche Raum als neuer Sehnsuchtsort und Zone der gesellschaftlichen Transformation entdeckt werden. Wirkt "Landlust" - die auflagenstarke Zeitschrift für Eskapist*innen, voll von vermeintlichen Idyllen des Landlebens?
Neue Sehnsuchtsorte?
In der Tat: Dörfer und Kleinstädte gewinnen wieder an Beliebtheit. Auch wenn die Wanderungsbewegungen in den Corona- und Krisenjahren insgesamt rückläufig sind, entscheiden sich seit 2017 mehr Menschen in Ost- und Westdeutschland für ein Leben auf dem Land. Seitdem haben knapp zwei Drittel der bundesdeutschen Landgemeinden Bewohner*innen durch Zuzug dazugewonnen. Im Grenzland zählen zum Beispiel Brüggen, Viersen, Wassenberg oder Straelen zu den Gewinnern. Willich oder Niederkrüchten verlieren, Schwalmtal stagniert…
Es sind vor allem die Familien- und Berufswanderer*innen, die in ganz Deutschland für eine noch eher zaghafte Belebung entlegener Regionen auch jenseits der großen Städte sorgen: junge ins Berufsleben startende Menschen zwischen 25 und 29 Jahre oder die 30-49-jährigen mit ihren Kindern. Dennoch bleiben zahlreiche ländliche Gemeinden auf demografischem Schrumpfkurs. Die neuen Wanderungsgewinne reichen vielerorts nicht aus, um den hohen Altersdurchschnitt und die damit verbundene Differenz aus Geburten und Sterbefällen auszugleichen.
Ohne die jährlich rund 316.000 Menschen, die aus dem Ausland nach Deutschland ziehen, hätten viele Großstädte keine Wanderungsgewinne mehr. Erste Wanderungsverluste sind für 2020 festzustellen. Welche Rolle Corona dabei spielt, ist noch nicht absehbar. Dennoch: Die Wanderungsgewinne der Landgemeinden wurden in der Vergangenheit unterschätzt, die der Großstädte überschätzt. Das hat auch Auswirkungen auf die gemeindescharfen Prognosen der statistischen Ämter.
"Landlust neu vermessen"
Das sind einige Ergebnisse einer neuen Studie zum Wanderungsgeschehen in Deutschland, die Frederick Sixtus und Lilian Beck vom Berlin-Institut für Bevölkerung und Entwicklung am 28. Juni 2022 in der Berliner TAZ-Kantine präsentierten (2). Ihr Institut und die Wüstenrot-Stiftung haben die Studie unter dem Titel „Landlust neu vermessen“ (3) veröffentlicht. Auf einer interaktiven Karte bieten sie die Möglichkeit, die ermittelten Daten gemeindescharf abzurufen. (4)
Wissenschaftlicher Vorgänger der Studie ist „Digital aufs Land“ (5). Diese Studie hat ländliche Coworking Spaces, digitale Gründungen, Kreativorte und gemeinschaftliche Wohnprojekte in verschiedenen Regionen Deutschlands untersucht und ging der Frage nach, wie „Pioniere der Landlust“ das Leben und Arbeiten in Dörfern und Kleinstädten verändern können und welche Potenziale sich daraus für Regionen auch fern der Großstädte ergeben.
Die vier Autor*innen der neuen Studie haben jetzt in einer deskriptiven Analyse die Wanderungsstatistiken des Bundes und der Länder zwischen 2008 und 2020 und die Daten der Statistischen Ämter zu den Zu- und Fortzügen über Gemeindegrenzen nach verschiedenen Altersgruppen sowie nach Binnen- und Außenwanderung in einer ausgewertet.
Der Vergleich der Wanderungssalden pro Tausend Einwohner*innen in den beiden Zeiträumen 2008 bis 2010 und 2018 bis 2020 beschreibt, wie sich das Wanderungsgeschehen über ein Jahrzehnt verändert hat. Die Ausnahmejahre 2015/16, in denen die Zuwanderung einer hohen Zahl von Geflüchteten das Wanderungsgeschehen deutschlandweit kurzfristig stark beeinflusst hat, sind – anders als in der NRW-Bevölkerungsprognose von 2018 - nicht in die Analyse eingeflossen.
Eine neue Landlust sei da und lasse sich in den Wanderungsstatistiken nachzeichnen, schließt Catharina Hinz, Direktorin des Berlin Instituts für Bevölkerung und Entwicklung aus der Studie. Digitalisierte Arbeitsplätze und die Corona-Pandemie hätten die Sehnsucht nach mehr Platz und mehr Grün verstärkt, meint auch Manuel Slupina, Leiter des Themengebiets Stadt und Land bei der Wüstenrotstiftung. Die Landlust biete für kleine Gemeinden die Chance demografischen Wandel abzumildern, wenn aus den neuen Nachbarn auch eine funktionierende Dorfgemeinschaft wird.(2)
Wanderungstreiber? - Qualitative Studie angekündigt
Die Hypothesen klingen auf den ersten Blick plausibel. Doch lässt sich über die Gründe für die statistisch feststellbaren Wanderungsbewegungen bisher eher spekulieren: Sind Corona, Digitalisierung, Homeoffice oder tatsächlich eine neue Landlust die Treiber? Oder liegt die Trendwende daran, dass Wohnen in den großen Städten immer teurer wird? Welche Rolle spielen Einkommensverhältnisse, Hitzestress, Mobilitätsmöglichkeiten oder die Integration von Geflüchteten?
Hat der „Landlust-Effekt“ womöglich mit einem gewandelten Arbeitsmarkt und einer veränderten Unternehmenskultur zu tun? Was hat das reale Landleben mit romantisierenden Sehnsuchtsträumen gestresster Städter*innen zu tun? Welche Rolle spielen Landwirtschaft und die dörfliche Infrastruktur? Gibt es angesichts der vielen Stein- und Schottergärten auf dem Land tatsächlich eine neue Lust auf Grün? Wachsen die landfressenden Einfamilienhaussiedlungen an den Ortsrändern oder zeichnen sich in den ländlichen Ortskernen neue Wohn- und Lebensformen ab? Wächst in den Dörfern und Kleinstädten was Neues zusammen? Welche Ideen sind entstanden? Wie funktioniert das digitale Arbeiten in der Provinz?
Das Berlin-Institut und die Wüstenrot-Stiftung wollen in den nächsten Wochen solche Fragen in ausgewählten Kommunen näher beleuchten und kündigen dazu eine qualitative Folgeuntersuchung an.
IT-NRW: Regionale Bevölkerungsprognose 2050
Mittlerweile hat auch Thomas Müller vom Service Bevölkerung bei der IT NRW seine Annahmen verändert. Auch er hat bei den Umzügen 2017- 2020 eine Trendverschiebung hin zu Kleinstädten festgestellt und in der aktuellen nordrhein-westfälischen Bevölkerungsprognose anders gewichtet als zuvor (6). Offen ist aber noch, ob sich der „Trend zum Land“ verstetigt. Die Zeiten sind unsicher und nicht alle Menschen halten sich an Prognosen.
Fest steht jedoch, dass die Generation der Babyboomer ab 2035 in die Gruppe der über 80-jährigen hineinwächst. Diese Altersgruppe werde im Jahre 2050 in Nordrhein-Westfalen um 50% und im Kreis Viersen 80 % größer sein als heute. Die IT.NRW-Prognose sagt trotz der neuen Wanderungstrends für 2050 eine Schrumpfung der Erwerbsbevölkerung im Kreis Viersen um 15% und einen Bevölkerungsrückgang um 3,2% auf 289.100 Menschen voraus.
Zur Entwicklung der Einwohner*innenzahl ergibt sich in der Planungsregion Düsseldorf ergibt sich insgesamt ein heterogenes Bild. Laut Vorausberechnung nimmt die Einwohnerzahl bis zum Jahr 2050 insgesamt um 17.000 Menschen zu. Die größten Zuwächse werden für Düsseldorf (+26.358), Wuppertal (+8.500 Einwohner) und den Kreis Kleve (+6.400) prognostiziert. Die größten Rückläufe in der Bevölkerungszahl werden für Mönchengladbach (−6.600), den Kreis Mettmann (−10.600) und den Kreis Viersen (−9.500) bis zum Jahr 2050 prognostiziert. (7) Detaillierte Angaben für jede Gemeinde sind in der IT-NRW- Datenbank Nr. 12422 abrufbar (8).
Kann eine neue Landlust die dort aufgeführten Prognosen verändern? Die Differenzen zwischen der nordrhein-westfälischen Bevölkerungsvorausberechnung 2018 und Prognosezahlen 2021 zeigen, welch unterschiedliche Vorhersagen je nach den angenommenen Ausgangsvoraussetzungen möglich sind. Daher ist die Politik gut beraten, nicht sofort auf jede neue Zukunftsvorhersage zu reagieren. Vor langfristig wirkenden Strukturentscheidungen macht es Sinn, erst einmal zu beobachten, ob sich festgestellte gesellschaftliche Trends für einen längeren Zeitraum verstetigen.
Neue Dynamik für das Landleben?
Vielleicht ist ja bereits mehr Dynamik ins Landleben gekommen als derzeit anhand der Statistiken und der Alltagsbeobachtung festzustellen ist. Sind die Glasfaserleitungen, Windräder oder die ersten Co-Working Spaces in verödeten Ortskernen bereits die Vorreiter einer Transformation hin zu einer ressourcenschonenden, vielfältigen, digitalen, dezentralen, postfossilen Gesellschaft mit großer Diversität, viel Grün, guter Luft und lokaler Landwirtschaft? Oder sorgen der zu erwartende Pflegenotstand, neue Flächenbedarfe für Energiewende und Wirtschaftswachstum, die industrielle Landwirtschaft oder das fortschreitende Ausdünnen der ländlichen Infrastruktur eher für weiter sinkende Lebensqualität in schrumpfenden Dörfern und Kleinstädten? War der angebliche Trend zum Land womöglich nichts weiter als eine Reaktion auf einen zu heiß gelaufenen Immobilienmarkt?
Heute käme es darauf an, den ländlichen Raum um die großen urbanen Zentren herum, „in seiner ökologischen Rolle als natürlichen existenzsichernden Rückraum mit ökologisch- industrieller Landwirtschaft und weiträumigen naturbelassenen Rückzugsräumen für das Leben in den Städten neu zu sehen, zu pflegen und zu entwickeln.“ Stadt und Land könnten so „in ein neues zivilisationsfreundliches und sorgsam gehütetes Verhältnis“ gebracht werden, meint Udo Knapp (1).
Könnte nicht auch diese effiziente Kombination von unterschiedlichen Lebens- und Wachstumsqualitäten eine weitere Form der Landlust erzeugen, die über eine Entschleunigungssehnsucht gut verdienender urbaner Mittelschichtsmenschen hinausgeht? Was ist mit gleichwertigen Lebensverhältnissen, der Gemeindefinanzierung und den Wachstumserwartungen der Bürgermeister*innen in ländlichen Kommunen?
Landlust, Stadtflucht, Mensch und Wirtschaft in der Transformation nach der Zeitenwende: Der Bedarf nach fundierter Raumordnungsforschung wächst, doch die Zukunft des Grenzlands bleibt ungewiss.
Verweise
1. Knapp, Udo;. Land unter. Futur zwei - Magazin für Zukunft und Politik. Heft Nr. 20, 8. März 2022, S. 46f
2. Landlust neu vermessen. Pressekonferenz zur Veröffentlichung der Studie. [Online] 28. Juni 2022. https://www.youtube.com/watch?v=JxElXwzn4Rs
3. Beck, Lilian; Sixtus , Frederick; Nice, Thomas; Hinz, Catherina;. Landlust neu vermessen. Wie sich das Wanderungsgeschehen in Deutschland gewandelt hat. [Online] 28. Juni 2022.
https://www.berlin-institut.org/fileadmin/Redaktion/Publikationen/Berlin-Institut___Wuestenrot_Stiftung_Landlust_neu_vermessen.pdf
4. [Online] https://neuelandlust.de/#datenentdecken
5. Dähner, Susanne, et al. Digital aufs Land. Wie kreative Menschen das Leben in Dörfern und Kleinstädten neu gestalten. [Online] 21. April 2021. https://www.berlin-institut.org/fileadmin/Redaktion/Publikationen/153_Digital_aufs_Land/Digital_aufs_Land_Online.pdf
6. Müller, Thomas. Bevölkerungsvorausberechnung und Modellrechnung zur Entwicklung der Privathaushalte. Vortrag im Planungsausschuss des Regionalrats Düsseldorf. [Online] 9. Juni 2022. https://www.brd.nrw.de/regionalratssitzungen/2022/tagesordnung-der-6-sitzung-des-ausschusses-fuer-planung-pa
7. Bezirksregierung Düsseldorf. Bevölkerungsvorausberechnung 2021. [Online] 22. Juni 2022. https://www.brd.nrw.de/themen/planen-bauen/regionalentwicklung/zukunftsplaner-newsletter/bevoelkerungsvorausberechnung-0
8. Information und Technik Nordrhein Westfalen - Statistisches Landesamt. Code 12422 - Bevölkerungsvorausberechnung 2021 - 2050 (Gemeinden). [Online] https://www.landesdatenbank.nrw.de/ldbnrw/online?operation=statistic&code=12422#abreadcrumb