Montag, 17. Juli 2017 - zuletzt bearbeitet am 14.10.2021
"Rio +25" – Über die Nachhaltigkeit in Willich und NRW
Grenzen des Wachstums+ 45“, „Rio +25“, „Brundtlandt + 30“… Jubiläen lösen Rückblicke aus, können aber auch Anlass bieten nach vorne zu schauen. Der Willicher „VHS-Grenzlandgrün-Abend Rio+25“ beschäftigte sich am Beispiel Nordrhein-Westfalens und der Stadt Willich mit der Entwicklung von der „Agenda 21“ zur „Agenda 2030“.
Nachhaltige Entwicklung: Rund 300 Jahre hat es gebraucht, bis aus einem rohstoffsichernden Forstwirtschaftsansatz des kursächsischen Oberberghauptmanns Hans-Carl von Carlowitz eine Orientierungsmarke für die Gestaltung der Welt wurde. In seiner Abhandlung „Silvicultura oeconomica“ analysierte er den Zusammenhang von Holzeinschlag und den Wachstumsraten der Bäume und veranschaulichte damit die Bedeutung vorausschauenden und verantwortlichen Handelns gerade in Zeitstrukturen, in denen Ursache und Wirkung weit auseinander liegen.
Vor 30 Jahren gab Volker Hauff im Namen der 19-köpfigen Weltkommission für Umwelt und Entwicklung die deutsche Version des Abschlussberichts unter dem Titel „Unsere gemeinsame Zukunft“ heraus. Vorsitzende der Kommission war die damalige norwegische Ministerpräsidentin Gro Harlem Brundtlandt. Daher ist das Buch als Brundlandt-Bericht in die Geschichte eingegangen. Und das vor allem wegen seiner berühmten Erstdefinition: „Nachhaltige Entwicklung ist eine Entwicklung, die die Bedürfnisse der Gegenwart befriedigt, ohne zu riskieren, daß künftige Generationen ihre eigenen Bedürfnisse nicht befriedigen können.“
Global denken – lokal handeln
Dies war im Juni 1992 der zentrale Leitgedanke der Uno-Konferenz für Umwelt und Entwicklung in Rio de Janeiro. Kurz nach dem Ende des „Kalten Kriegs“ sollten die Weichen so gestellt werden, dass bei allen politischen und wirtschaftlichen Entscheidungen der Zusammenhang zwischen menschlichem Handeln, globalen Umweltveränderungen und weltweiter Fairness eine entscheidende Rolle spielt. Beschlossen wurde u.a. das UN-Aktionsprogramm Agenda 21. Es forderte alle politischen Ebenen auf, im Sinne der Nachhaltigkeit zu handeln. Im Kapitel 28 postulierten die 178 Unterzeichnerländer, dass die Mehrzahl der Kommunalverwaltungen bis 1996 einen Konsens über eine kommunale Agenda erzielt haben sollten: „Kommunen errichten, verwalten und unterhalten die wirtschaftliche, soziale und ökologische Infrastruktur, überwachen den Planungsablauf, entscheiden über die kommunale Umweltpolitik und kommunale Umweltvorschriften und wirken außerdem an der Umsetzung der nationalen und regionalen Umweltpolitik mit. Als Politik- und Verwaltungsebene, die den Bürgern am nächsten ist, spielen sie eine entscheidende Rolle bei der Informierung und Mobilisierung der Öffentlichkeit und ihrer Sensibilisierung für eine nachhaltige umweltverträgliche Entwicklung.“ (S. 231). Und im Juni 1998 ergänzte die damalige Bundesumweltministerin Angela Merkel auf der „Lokalen Agenda – Konferenz“ in der damaligen Bundeshauptstadt Bonn: „Nur wenn auf der kommunalen Ebene die Grundlagen geschaffen werden, wird es uns gelingen, dem Prinzip der Nachhaltigkeit national und global zum Durchbruch zu verhelfen."
Unter dem Motto „Global denken – lokal handeln“ machten sich Ende der der 1990er Jahre auch Kommunen im Kreis Viersen auf den Weg zu einer Lokalen Agenda 21. Neben Viersen, Kempen, Tönisvorst und Schwalmtal profilierte sich besonders Willich als agendaaktive Kommune.
Agenda 21 in Willich
Untrennbar verbunden mit der Agenda 21 in Willich ist Franz-Carl (Charly) Hübner. Seinen Namen verbindet man seit nahezu drei Jahrzehnten mit fast allem, was mit gesundem und nachhaltigem Leben in Willich zu tun hat. Derzeit arbeitet er im Geschäftsbereich Rahmenplanung des Fachbereichs „Natur und Lebensraum“ der Stadt und kümmert sich federführend um die Umsetzung der Agenda 2030 im Rahmen des LAG 21 - Projekts „Global nachhaltige Kommune“.
In Willich startete die Lokale Agenda mit einer Auftaktveranstaltung im August 2000. Zuvor gab es den entsprechenden Ratsbeschluss, ein Lenkungskreis hatte sich etabliert, eine Beratungsagentur den Gründungsprozess begleitet. Danach beschäftigten sich Agenda-Gruppen mit
- „Landwirtschaft und Umwelt“ (Flächenmanagement, Biotopverbund, freiwillige Vereinbarungen zum Wasserschutz; Offene Höfe und Direktvermarktung – bis 2007 aktiv)
- „Stadtentwicklung und Verkehr“ (Leitbildentwicklung, Stadtbussystem, Fragebogenaktion - bis 2006 aktiv)
- „Jugend und Wirtschaft“ (Berufsfindung, Praktikums- und Lehrstellenvermittlung, Bewerbertrainings, Plakataktionen, Kürung des Ausbildungsbetriebs des Jahres – noch heute aktiv u.a. mit den Berufsfindungstagen oder dem „Tauschring Willi statt Euro“ )
- „Energie“ (Energie sparen, regenerative Energien nutzen, Energieberatung- Der Arbeitskreis hatte eine kurze Lebensdauer, aber Willich beteiligt sich am European Energy Award und gehörte 2007 zu den Silberkommunen. 2011 und 2014 erreichte Willich die Goldzertfizierung )
Auch wenn sich Aktive im Laufe der Jahre aus dem Agenda-Prozess verabschiedet haben, gehört Willich heute zu den Kommunen, die auf ihrer Homepage immer noch mit einer aktiven „Lokalen Agenda 21“ werben können.
„Nachhaltigkeit“ spielt in Willich auch neben der Lokalen Agenda eine große Rolle. Charly Hübner verweist auf die Projekte „Streuobstwiesen“ , „Klimaschutzsiedlung“, Bürgerbusse in Willich und Anrath oder „Fair trade town“, auf den jährlich ausgelobten „Umweltpreis“ oder die schulbiologische Arbeit der Eva Lorenz Umweltstation im Neersener Schlosspark. „Benannt wurde sie nach der im Jahre 2000 verstorbenen SPD-Kommunalpoltikerin Eva Lorenz. Ihr Leben war durch ein großes umweltpoltisches Engagement geprägt.“
Agenda 2030 und 3,3 Erden für NRW
„Sustainable development goals (SDG’s), „Post 2015-Agenda“ oder „Weltzukunftsvertrag“. Unter diesen Stichworten wurde vor fünf Jahren auf der Rio+20 – Konferenz ein Prozess angestoßen, der im September 2015 zur Verabschiedung von 17 Weltnachhaltigkeitszielen und 169 Zielvorgaben durch die Generalversammlung der Vereinten Nationen führte. Sowohl der Bundestag als auch der NRW-Landtag haben beschlossen, die sog. Agenda 2030 aktiv umzusetzen. Die Neuauflage der Deutschen Nachhaltigkeitsstrategie und die in NRW unter der Überschrift „Heute handeln“ verabschiedete Strategie und deren Indikatoren versuchen diesem Anspruch gerecht zu werden.
Hier ein UN-Erklärfilm zu den globalen Zielen für nachhaltige Entwicklung:
„Es geht bei den 17 Zielen um ein grundsätzlich anderes Verhältnis zu Begriffen wie Entwicklung, Fortschritt und Wohlstand“, betont Judith Schwethelm. Ihr Arbeitsschwerpunkt im Bundesministerium für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung ist die gerechte Gestaltung der Globalisierung. Beim „Grenzlandgrün-Abend“ trat sie als Sprecherin des Referats VIII-4 (Nachhaltige Entwicklung, Koordinierung Nachhaltigkeitsstrategie NRW, Grundsatzfragen der Umweltpolitik) im Ministerium für Klimaschutz, Umwelt, Landwirtschaft, Natur- und Verbraucherschutz des Landes Nordrhein-Westfalen auf. Dorthin ist sie seit einem Jahr abgeordnet, um sich um Nachhaltigkeit auf kommunaler Ebene im allgemeinen und um die Grüne Hauptstadt Essen im besonderen zu kümmern. Schwethelm: „Die Kategorie Unterentwicklung ist nicht mehr zeitgemäß. Es geht um einen nachhaltigen Entwicklungspfad für alle.“ Der ökologische Fußabdruck messe das Stück Erdkuchen, das jeder Mensch durch seine Lebensweise beansprucht. Als nachhaltig gelten 1,8 Hektar. Indien, Afrika, China liegen noch darunter. Die westliche Welt liegt deutlich darüber. „Im Jahr 2012 hätte es 3,3 Erden bedurft, wenn alle Menschen den durchschnittlichen Lebensstil der Bewohnerinnen und Bewohner Nordrhein-Westfalens gepflegt hätten.“ Zwei Tonnen Kohlendioxid pro Jahr pro Person gilt als Richtschnur für einen nachhaltigen Klima- und Umweltschutz. In Deutschland verursacht jeder Mensch 12,5 Tonnen, in NRW sind’s sogar 16 Tonnen. Näheres dazu ist dem 2016 veröffentlichten Umweltbericht Nordrhein-Westfalen zu entnehmen.
„Heute handeln“
Das war der Hintergrund für den vierjährigen Diskussions- und Beteiligungsprozess zur NRW-Nachhaltigkeitsstrategie „Heute handeln“. An ihm beteiligten sich – nicht immer konfliktfrei – die NRW-Ministerien, sowie Vertreter(innen) aus Wirtschaft, Kommunen, Wissenschaft und der sog. Zivilgesellschaft. Entstanden sind 19 Handlungsfelder zu den sozialen, ökonomischen und ökologischen Dimensionen der Nachhaltigkeit:
- Klimaschutz und Energiewende
- Nachhaltiges Wirtschaften,
- Schutz natürlicher Ressourcen: Biodiversität, Wald, Wasser, Flächen/Boden, Luft und Umwelt & Gesundheit,
- Demografischer Wandel,
- Sozialer Zusammenhalt und gesellschaftliche Teilhabe,
- Gute Arbeit - faire Arbeit,
- Integration,
- Nachhaltige Finanzpolitik,
- Nachhaltige Stadt- und Quartiersentwicklung, Nachhaltige Mobilität,
- Nachhaltiger Konsum/nachhaltige Lebensstile,
- Landbewirtschaftung,
- Gesundheit,
- Eine-Welt-Politik und Europäische und internationale Dimension,
- Geschlechtergerechtigkeit,
- Barrierefreiheit und Inklusion,
- Nachhaltigkeit in den Kommunen (Lokale Agenda),
- Bürgerschaftliches Engagement/Teilhabe
- Bildung und Wissenschaft.
Dabei geht es in NRW zum Beispiel darum, Armutsrisiken, die Nitratbelastung des Grundwassers, das Rauchen und das Übergewicht oder den Verdienstabstand zwischen Männern und Frauen zu reduzieren und Verfahrensinnovationen, E-Mobilität, Roh-stoffproduktivität, ökologische Landwirtschaft Waldflächen und Artenvielfalt zu steigern. Mehr dazu können Sie hier nachlesen.
Festgelegt wurden 70 Nachhaltigkeitsindikatoren, Nachhaltigkeit ist als Leitprinzip in der gemeinsamen Geschäftsordnung der Landesministerien verankert. Es gibt jetzt eine Nachhaltigkeitsprüfung für Gesetze und Verordnungen des Landes NRW. Alle zwei Jahre wird IT.NRW einen Nachhaltigkeitsindikatorenbericht vorlegen, für 2020 ist ein Nachhaltig-keitsfortschrittsbericht vorgesehen. Die weitere Steuerung der Nachhaltigen Entwicklung in NRW soll unter Beteiligung der Wirtschafts- und Umweltverbände, der Kirchen, Gewerkschaften und Vertretern der Zivilgesellschaft erfolgen. Schwethelm: "Die NRW-Nachhaltigkeitsstrategie ist kein Korsett, sondern ein Rahmen."
Die Schlüsselrolle im Nachhaltigkeitsprozess sieht Judith Schwethelm bei den Kommunen. Sie zitiert dazu den Politikwissenschaftler Benjamin Barber: „ Das 20. Jahrhundert ist das Jahrhundert der Nationalstaaten. Das 21. Jahrhundert ist das Jahrhundert der Städte.“ Jährliche kommunale NRW-Nachhaltigkeitstagungen, der halbjährliche kommunale Spitzendialog „Chefsache Nachhaltigkeit“, die Unterstützung der LAG 21 oder das Projekt „global nachhaltige Kommune“ zeigen: Die Zusammenarbeit mit den Kommunen ist ein wichtiger Pfeiler der NRW-Nachhaltigkeitspolitik.
Der Willicher Weg
Eine von den 15 global nachhaltigen Modellkommunen in NRW ist die Stadt Willich. Und das aus gutem Grund, auch wenn Charly Hübner nüchtern feststellt, dass eine einzelne Kommune nur mittelbare Einflussmöglichkeiten auf die globale Zielerreichung hat. „Aber die Auswirkungen von Klimawandel, Krieg und Armut treffen uns unmittelbar.“ Hübner nennt „Landwirtschaft und extreme Wetterlagen“ oder die „Aufnahme von Flüchtlingen“ als Beispiele. Daher beteiligt sich Willich an dem Landesprojekt und hat eine Willicher Organisation „Global nachhaltige Kommune“ aufgebaut, die aus drei Schichten besteht: einer zweiköpfigen Koordinationsstelle und einem fünfköpfigen Kernteam im Rathaus sowie einer Steuerungsgruppe aus Wirtschaft, Wissenschaft, Politik und Zivilgesellschaft mit 15 – 25 Personen. Einen Zwischenbericht hat dieses Team um Charly Hübner am 31. Mai dem Willicher Umweltausschuss vorgestellt. Die Rheinische Post sah in dem Konzept einen besonderen Willicher Weg zu einem veränderten Bewusstsein für ein nachhaltiges und ökofaires Leben „vor Ort“.
Ökoroutinen entwickeln
Ob „das Projekt nachhaltige Ernährung am Dülkener Berufskolleg“, „Stadtradeln im Kreis Viersen“, „Mit dem Rad zur Arbeit“, die „Europäische Integration“ der „Kauf von Billigst-lebensmitteln“ der „SUV-Stau an der Grundschule“, die „Effizienzrevolution“, „Resilienz und Katastrophenschutz“ – die Publikumsbeiträge des Grenzlandgrün-Abends“ machten deutlich, wie vielfältig und widersprüchlich „Nachhaltigkeit“ mittlerweile gebraucht wird. Was für den einen als Heilsbegriff daher kommt, ist für den anderen nichts anderes als ein Gummiwort zur Vertuschung von Greenwashing.
Judith Schwethelm setzt auch darauf, dass jeder einzelne seinen oder ihren Alltag nachhaltig gestaltet: Mehr „Do it yourself“, Zeit anders einteilen, Wohnfläche reduzieren, Fahrrad fahren, langlebige Produkte kaufen, Elektrogeräte effizient verwenden…
Sie verweist auf Michael Kopatz, den Projektleiter am Wuppertal Institut für Klima, Umwelt, Energie. 2016 erschien sein Buch "Ökoroutine. Damit wir tun, was wir für richtig halten", in dem er zeigt, wie sich durch einfache Standards und Limits der Energieverbrauch drastisch reduzieren lässt - z. B. für Verpackungen, Lampen und Häuser. Nachhaltiges Verhalten könne so zur akzeptierten Routine werden.
Die Wissenschaft hat längst Zahlen Daten und Fakten zur nachhaltigen Entwicklung und zur Transformation in eine postfossile Gesellschaft geliefert. Bertelsmann und das Deutsche Institut für Urbanistik arbeiten an einem kommunalen Indikatorensystem. „Nachhaltigkeit“ hat sich in den letzten drei Jahrzehnten zu einem vielfältigen und werthaltigen Begriff entwickelt, der immer wieder neu interpretiert werden muss. Damit gesellt er sich zu „Demokratie“, „Freiheit“ „Sicherheit“ und „Gerechtigkeit“.
Doch das gesellschaftliche Bewusstsein und die Politik hinken noch hinterher. Alle wollen den Wandel, aber nur wenige wollen den Anfang machen. Menschen fühlen sich benachteiltigt und schräg angesehen, wenn sie allein auf Fleisch, Flug oder Auto verzichten. Politiker(innen), die wissen, was zu tun wäre, fürchten ihre Abwahl. Die Skandalisierung des Veggie-Days war 2013 ein Beispiel, was medial aus einem bescheidenen Vorschlag zu mehr Nachhaltigkeit werden kann.
Daher bleibt es spannend zu beobachten, wie die neue NRW-Landesregierung die Nachhaltigkeitsstrategie „Heute handeln“ umsetzt und welche Ökoroutinen die „Global nachhaltige Kommune“ im Alltag der Willicher Bürger und Bürgerinnen auslösen wird. Denn für einen „ökofairen Fußabdruck“ reichen bekanntlich selbst 365 Veggiedays pro Jahr noch nicht aus.