Suchen
25.11.2021
Nach dem „Offenbarungseid“: Politische Auswege aus der Biodiversitätskrise gesucht
Der Erhalt der Artenvielfalt sei eine „Menschheitsaufgabe und eine ethische Verpflichtung“ deklariert der Ampel-Koalitionsvertrag auf Seite 36 (1). Doch wenn‘s konkret werden soll zum Beispiel beim Umgang mit Flächen, setzen CDU und FDP andere Prioritäten. Sie lehnten gestern im Landtag die Volksinitiative Artenvielfalt ab.
Die – während der Corona-Pandemie von 115.000 Unterstützer*innen unterzeichnete - Volksinitiative hatte ein „Handlungsprogramm Artenvielfalt“ (2) vorgelegt. Es ging unter anderem um verbindliche Obergrenzen für Flächenversiegelung, um ein Verbot chemisch-synthetischer Pestizide in Schutzgebieten, um naturnahe Wälder oder die Wiedervernässung von Sumpf- und Moorstandorten, um eine naturverträgliche Landwirtschaft, um den Biotopverbund, den Auenschutz oder den Artenschutz in der Stadt.
Die nordrhein-westfälischen Landesverbände des Bund für Umwelt und Naturschutz Deutschland (BUND), der Landesgemeinschaft Naturschutz und Umwelt (LNU) und des Naturschutzbund Deutschland (NABU) hatten die Initiative ins Leben gerufen. Deren Ablehnung werten sie als „Schlag ins Gesicht“ der Unterzeichner*innen. Angesichts des fortschreitenden Artenschwundes und des weiter ungebremsten Flächenfraßes sei der Beschluss ein „naturschutzpolitischer Offenbarungseid“ und eine „Ohrfeige für den Naturschutz“ (3).
Die Naturschutzverbände sind sich sicher, dass mit dem Beschluss vom 24. November 2021 eine Riesenchance für den Erhalt der Artenvielfalt in NRW vertan worden ist. Der dramatische Schwund an Pflanzen- und Tierarten sei neben der Klimakrise eine existentielle Zukunftsfrage. Anstatt die von mehr als 115.000 Menschen in NRW unterstützten Forderungen für ein ‚Handlungsprogramm Artenvielfalt‘ als Rückenwind für umfassendes Handeln anzunehmen, würden CDU/FDP nur „mickrige, unverbindliche und teils peinliche Alternativen“ anbieten. Dass in der spätabendlichen Landtagsdebatte zum Beispiel mehr Straßenbegleitgrün als Beitrag zur Artenvielfalt angeführt wurde, spreche für sich. Auch der CDU/FDP-Vorschlag nach einem Runden Tisch löse keines der Biodiversitätsprobleme (4).
Die CDU/FDP-Landtagsabgeordneten verabschiedeten am 24. November 2021 einen Entschließungsantrag, der unter der „Greenwashing“ - Überschrift „Das Anliegen der Volksinitiative für den Artenschutz in Nordrhein-Westfalen würdigen und Artenschutz stärken“ (5) firmierte. Die nordrhein-westfälische Landespolitik setzt mit der Verabschiedung des Antrags beim Naturschutz auf ein „Weiter so“ mit den „grundlegenden Prinzipien“ der Freiwilligkeit und der Minimierung des Verwaltungsaufwands.
Nach diesen Prinzipien sollen sich die nordrhein-westfälischen Naturschutzgebiete zu „Hotspots der Biodiversität“ entwickeln. Der Biotopverbund könne in NRW mit „linienhaften Strukturen“ an den Straßenrändern neue Wege gehen.
CDU und FDP bekennen sich zwar zu den Zielen der rechtlich verbindlichen Wasserrahmenrichtlinie, doch sei ihre Umsetzung in NRW durch die fehlende Flächenverfügbarkeit begrenzt.
Feste Flächenspar- und Freiraumziele lehnen CDU/FDP ab. Sie würden nur den Wohnungsbau, den Ausbau regenerativer Energien oder die Erweiterung von dringend benötigten Verkehrswegen erschweren. Stattdessen sollten nach CDU/FDP-Auffassung die Kommunen zum Erhalt der Biodiversität beitragen, indem sie multifunktionale Konzepte für eine Flächennutzung in den Innenbereichen entwickeln. Zudem sei durch die Landesinitiative „Bau.Land.Leben“ das Interesse am Flächenrecycling und am Aufbau eines Brachflächenkatasters gewachsen.
Gegen Naturwald sprechen nach Ansicht der CDU/FDP-Parlamentarier*innen Faktoren wie Privateigentum, Tourismus, Wandern, Biken oder Reiten, die Verkehrssicherungspflicht oder der Erhalt von Holz für den Wohnungsbau.
Die NABU-Landesvorsitzende Dr. Heide Naderer analysiert den Entschließungsantrag: „Statt eines in der Volksinitiative geforderten ´Handlungsprogramms Artenvielfalt NRW´ wird mit dem Antrag von CDU und FDP ein kleinteiliges Allerlei vorgelegt. Statt notwendigen Verbesserungen wird an dem ohnehin Geplanten ambitionslos festgehalten. Die schwarz-gelbe Landesregierung beweist einmal mehr, dass sie offenbar nicht verstanden hat, worum es in der Sache den Bürgerinnen und Bürgern geht: um einen nachhaltigen und umfassenden Wandel im Umgang mit unserer natürlichen Lebensgrundlage! So wird Ministerpräsident Wüst an seinem Vorhaben, die Schöpfung zu bewahren, scheitern.“ (4)
Die Landtagsabgeordneten der SPD und der Grünen unterstützen das Anliegen der Volksinitiative. Die Naturschutzverbände hatten bereits nach der Debatte im Umweltausschuss angekündigt, trotz der „akuten Enttäuschung“ weiter für die Inhalte der Volksinitiative zu kämpfen. „Die Landtagswahl am 15. Mai 2022 ist nicht nur eine Klimawahl, dann wird auch über den Ausweg aus der Biodiversitätskrise entschieden.“ (3)
Eine Klimapolitik, die sich nicht mit Natur und Ökosystemen beschäftigt, bezeichnet die Journalistin Ulrike Fokken als „unfassbare Realitätsverleugnung“. Die Krise der Ökosysteme sprenge offenbar die politische Vorstellungskraft: „Beim Thema Natur geht es nicht mehr um den Schutz einer Orchideenwiese oder den Erhalt von 40 Quadratmeter Feuchtbiotop am Rande eines Gewerbegebiets, sondern es geht darum, eine politische Antwort auf den drohenden Zusammenbruch von Ökosystemen zu finden.“ (6)
Anmerkungen
1. Mehr Fortschritt wagen. Bündnis für Freiheit, Gerechtigkeit und Nachhaltigkeit. Koalitionsvertrag 2021 – 2025 zwischen der Sozialdemokratischen Partei Deutschlands (SPD), BÜNDNIS 90 / DIE GRÜNEN und den Freien Demokraten (FDP) . [Online] 24. November 2021. https://cms.gruene.de/uploads/documents/Koalitionsvertrag-SPD-GRUENE-FDP-2021-2025.pdf
2. Volksinitiative Artenvielfalt. Forderungen. [Online]
https://artenvielfalt-nrw.de/forderungen/
3. Volksinitiative Artenvielfalt. Schwarz-Gelb ignoriert Stimmen für mehr Artenvielfalt. [Online] 10. November 2021.
https://artenvielfalt-nrw.de/volksinitiative-schwarz-gelb-ignoriert-stimmen-fuer-mehr-artenvielfalt/
4. BUND NRW. CDU und FDP lehnen Volksinitiative Artenvielfalt ab. [Online] 25. November 2021.
https://www.bund-nrw.de/presse/detail/news/cdu-und-fdp-lehnen-volksinitiative-artenvielfalt-ab/
5. CDU- und FDP-Fraktionen im Landtag NRW. Landtag NRW. Das Anliegen der Volksinitiative für den Artenschutz in Nordrhein-Westfalen würdigen und Artenschutz stärken. [Online] 23. November 2021.
https://www.landtag.nrw.de/portal/WWW/dokumentenarchiv/Dokument/MMD17-15755.pdf
6. Fokken, Ulrike;. taz.de. Biodiversität mitdenken. [Online] 18. November 2021.
https://taz.de/Artenvielfalt-in-Klimakrise/!5812536/
Grenzlandgruen - 16:13 @ Akteure und Konzepte, Umwelt und Gesundheit, Raumplanung und Regionalentwicklung | Kommentar hinzufügen
Archiv
2024: | Januar | Februar | März | April | Mai | Juni | Juli | August | September | Oktober | November |
2023: | Januar | Februar | März | April | Mai | Juni | Juli | August | September | Oktober | November | Dezember |
2022: | Januar | Februar | März | April | Mai | Juni | Juli | August | September | Oktober | November | Dezember |
2021: | Januar | Februar | März | April | Mai | Juni | Juli | August | September | Oktober | November | Dezember |
2020: | Oktober | November | Dezember |
Kategorien
- alle
- Allgemein
- Europa
- Region
- Kreis Viersen
- Schwalmtal
- Akteure und Konzepte
- Umwelt und Gesundheit
- Wirtschaft und Finanzen
- Raumplanung und Regionalentwicklung
- Kultur und Bildung
- Infrastrukturen und Daseinsvorsorge
- Strukturwandel im Rheinischen Revier
- Meckereien und Gemopper
- Grenzlandgrünschnitt
- Bündelmüll
- Medienhinweise
Kommentar hinzufügen
Die Felder Name und Kommentar sind Pflichtfelder.