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17.04.2023
“Sauberes Gas” Nachfolger der “sicheren Kernkraft”…
Das war’s. Nach knapp 62 Jahren gab es gestern den ersten Sonntag ohne deutsche Kernspaltung zum Zwecke der Stromerzeugung. Zum Abschied von der unkalkulierbaren und letztlich unbezahlbaren Hochrisikotechnologie (1) fand kein offizieller Staatsakt statt. Volkswirtschaftlich war der Atomstrom eine Sackgasse. Der bekannte Physiker Professor Dr. Harald Lesch kommentiert: „Ich finde, die Bilanz der deutschen Kernkraftwerke ist verheerend.“ (1)
Die betriebswirtschaftliche Bilanz für die Betreiber ist wohl anders zu bewerten. Der RWE-Energiekonzern setzte am Samstag, 15. April 2023 um 22.27 Uhr im AKW Emsland den „Schlusspunkt einer Ära“ (2) Nikolaus Valerius, Geschäftsführer der RWE Nuclear dankte allen Beschäftigten, die sich während der Betriebszeit des AKW rund um die Uhr um die Anlage gekümmert haben. (2)
Im niederrheinischen Grenzland löste dieser Schlusspunkt kaum Gefühle der Erlösung und Genugtuung aus. Deutschland ist raus, aber die Pannenreaktoren in Doel und Thiange laufen weiter – voraussichtlich bis 2035. Die Risiken der Atomkraft sind nicht gebannt. Radioaktivität kennt keine Grenzen.
Am ehemaligen Forschungsreaktor in Jülich lagert bis heute Atommüll. Das Problem der Endlagerung ist noch nicht gelöst. In Krefeld-Traar hält die Firma Siempelkamp mit ihren Produkten und Dienstleistungen weltweit die Kernkraftwerke am Laufen. Die militärische Nutzung der Atomenergie ist noch nicht gestoppt.
Inge Paulini, Präsidentin des Bundesamts für Strahlenschutz (BfS) verweist auf neue Gefahren: „Der Krieg in der Ukraine zeigt uns gerade sehr deutlich: Das Risiko eines radiologischen Unfalls mit gravierenden Folgen für Mensch und Umwelt besteht weiterhin. In den Fokus rücken auch Bedrohungsszenarien wie Cyberattacken oder Nuklearwaffenangriffe.“ Oft vergessen werde zudem, dass auch von den deutschen Atomkraftwerken ein – wenn auch deutlich kleineres – Risiko ausgeht, solange sie im Rückbau sind.
Die stillgelegten Kraftwerke sind noch lange nicht zurück gebaut. Wolfram König, Präsident des Bundesamts für die Sicherheit der nuklearen Entsorgung umschreibt den Zeitrahmen: „Für die nachfolgenden Generationen ist das Kapitel Atomenergie mit dem 15. April noch nicht geschlossen. Über viele Jahrzehnte müssen nun die offenen Fragen gelöst werden, die während des Atomzeitalters in Deutschland nicht beantwortet worden sind. Den gut sechs Jahrzehnten, in denen die Atomenergie zur Stromerzeugung genutzt wurde, stehen noch mindestens weitere 60 Jahre bevor, die wir für den Rückbau und die langzeitsichere Lagerung der Hinterlassenschaften benötigen werden.“ (3)
Der politische Umgang mit der Atomenergie zeigt Ansätze von schwarzem Humor. Der bayerische Ministerpräsident Söder will den Atommeiler Isar 2 in Landesverantwortung weiterbetreiben. Die EU-Taxonomie verleiht der Atomkraft ein grünes Etikett. Sie gilt jetzt als nachhaltig und klimafreundlich.
RWE-CEO Markus Krebber ließ per Pressemitteilung verkünden, dass für ihn das Kapitel Kernenergie abgeschlossen sei: „Jetzt kommt es darauf an, die ganze Kraft dafür einzusetzen, neben Erneuerbaren Energien auch den Bau von wasserstofffähigen Gaskraftwerken möglichst schnell voranzutreiben, damit die Versorgungssicherheit gewährleistet bleibt, wenn Deutschland 2030 idealerweise auch aus der Kohle aussteigen will.“ (2)
So umschreibt Krebber das nächste Kapitel des Lobbyismus. Der RWE-Konzern machte sich jahrelang für Atomenergie und Braunkohleverstromung stark, erhielt dafür staatliche Subventionen in Milliardenhöhe und weiß wie er politisch seine Profitinteressen absichern kann. 2020 war der vom jetzigen RWE-CEO Markus Krebber in seiner damaligen Funktion als Finanzchef konzipierte Tausch von Vermögenswerten und Geschäftsbereichen zwischen RWE und EON abgeschlossen. Damit richtete er den Konzern strategisch auf Geschäfte mit Sonne, Wind, Wasserstoff und Gas aus.
Am 11. März 2011 löste ein Seebeben die Nuklearkatastrophe in Fukushima aus. Am 30. Juni 2011. Am 30. Juni 2011 beschloss der Bundestag mehrheitlich den CDU/FDP-Gesetzentwurf zum endgültigen Atomausstieg. Gaslobbyisten entwickelten in dieser Zeit das Narrativ vom vermeintlich sauberen Gas als den idealen Partner der Erneuerbaren. Erdgas besteht aus Methan. Es trägt mit seinem hohen Treibhauspotenzial wesentlich zum Klimawandel bei. Dennoch schaffte es die Fossillobby, Deutschland in eine Gasabhängigkeit zu treiben, die sich mit dem russischen Angriffskrieg und auf die Ukraine und den daraus resultierenden Wirtschaftssanktionen als großer Fehler erwies. (4)
Jetzt soll Flüssigerdgas (LNG) unter anderem aus USA, Katar und Australien das russische Gas ersetzen. RWE ist an entsprechenden Projekten beteiligt. (5)
Die deutsche Politik will mit sicherer Energieversorgung die Wettbewerbsfähigkeit der deutschen Wirtschaft stabilisieren und ausbauen. Die fossilen Lobbyisten erarbeiten dazu die entsprechenden Narrative von Versorgungssicherheit oder Deindustrialisierung. Jetzt gilt das Narrativ vom Erdgas und der weiteren Kohleverbrennung als Brückentechnologie auf dem Weg in die Klimaneutralität. Die Gaslobby hat es sogar geschafft, dass im Rahmen der Finanztaxonomie auch dem Erdgas ein „grünes EU-Etikett“ verliehen wurde.
Das gilt nicht für die Braunkohle. Deren Ausbeutung wird sich bald auf dem - mit dem CO2-Zertifikatehandel entstandenen - neuen Markt für Erdatmosphärenverschmutzungsrechte nicht mehr rentieren.
Weltklimarat und die unterschiedlichen Gruppierungen der zivilgesellschaftlichen Klimabewegung warnen immer lauter und heftiger vor den Gefahren der Erderhitzung. Dennoch schaffen es die Industrieländer nicht, ihren CO2-Ausstoß so zu reduzieren wie es erforderlich wäre, um ein halbwegs erträgliches Leben auf diesem Planeten zu ermöglichen.
Immer noch werden die Entscheider*innen in Politik und Wirtschaft vom Glauben angetrieben, den gegenwärtigen Wohlstand mit energiepolitischen „Weiter wie bisher -Brücken“ absichern zu müssen. Daher wurde am vergangen Wochenende beim G7-Treffen der Umweltminister in Sapporo kein Zeitplan für das Ende der Kohleverbrennung in den sieben größten Industrienationen verabschiedet.
Der deutsche Atomausstieg hat wohl nur einen kleinen Abschnitt eines langen Irrwegs beendet. Die risikoreiche Fahrt der Industriegesellschaften ins globale Klimachaos hat er nicht ausgebremst.
Verweise
1. Bundesamt für die Sicherheit der nuklearen Entsorgun (BASE). Atomausstieg in Deutschland. Viele Aufgaben in der nuklearen Sicherheit bleiben. [Online] https://www.base.bund.de/SharedDocs/Downloads/BASE/DE/broschueren/bfe/atomausstieg-in-deutschland.pdf
2. RWE AG. Ende einer Ära: RWE hat ihr letztes Kernkraftwerk vom Netz genommen. [Online] 15. April 2023. https://www.rwe.com/presse/rwe-ag/2023-04-15-rwe-hat-ihr-letztes-kernkraftwerk-vom-netz-genommen/
3. Bundesamt für die Sicherheit der nuklearen Entsorgung (BASE) und Bundesamt für Strahlenschutz (BfS). Atomausstieg erhöht die Sicherheit in Deutschland, aber es bleiben Risiken. [Online] 13. April 2023 https://www.base.bund.de/SharedDocs/Pressemitteilungen/BASE/DE/2023/0413-atomausstieg.html
4. Deckwirth, Christina; Katzemich, Nina. Lobby Control. e.V. Pipelines in der Politik. Die Macht der Gaslobby in Deutschland. [Online] Februar 2023. https://www.lobbycontrol.de/wp-content/uploads/gaslobby-studie-lobbycontrol.pdf
5. RWE AG. Den Energieträger LNG entdecken. Flüssiges Erdgas für eine unabhängigere Energieversorgung. [Online] abgerufen am: 17. März 2023. https://www.rwe.com/unsere-energie/konventionelle-energien-entdecken/lng/
Grenzlandgruen - 12:24 @ Infrastrukturen und Daseinsvorsorge | Kommentar hinzufügen
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