Dienstag, 23. August 2016
"Jenseits der Beklommenheit" – Gesellschaftlicher Sprengstoff aus Kempen
Die gesellschaftliche Anspannung nimmt zu. Krise - eigentlich die Ausnahme – ist zum Dauerzustand geworden. Selbst im diesjährigen „Sommerloch“ riss die Kette von Horrormeldungen und Katastrophenbildern nicht ab. Terroranschläge erschütterten München, Würzburg und Ansbach. Grund genug, den Kempener Politologen und Pädagogen Professor Dr. Klaus-Peter Hufer zu einem RP- Sommerinterview zu bitten. Doch der Experte für Erwachsenenbildung fühlt sich selbst zunehmend beklommen. Seine Antworten auf die immer komplexeren Fragen rund um die gesellschaftliche Zukunft erscheinen auf den ersten Blick erstaunlich simpel, könnten aber auch neue Ressentiments hervorrufen.
Von den Idealen der französischen Revolution dominiere – so Hufer - nur noch die Freiheit des „Zuerst komme ich“. „Unsere“ Gesellschaft sei säkularisiert und konsumorientiert. Sie sei von normativer Autorität befreit und schwöre auf Wachstum. Sie werde Bürgerwehren etablieren und reiche Stadtteile umzäunen. Politik, Staat, Parlamente, Kirchen, Parteien und Gewerkschaften verlören an Einfluss. Die Umgangsformen stürzten ab. Eine flächendeckende Ökonomisierung habe die Geistes- und Sozialwissenschaften zurückgedrängt. Der soziale Kitt gehe verloren, denn „wir haben schon jetzt zu viel Technokratie, Funktionalismus und Pragmatismus, aber viel zu wenig Utopie (..) Den Sprengstoff, der in unserer Gesellschaft tickt, wird kein Betriebswirtschaftler, kein Ingenieur und kein Informatiker entschärfen können. Wir brauchen Psychologen, Soziologen und gute Sozialarbeiter. Die einseitige Konzentration auf die MINT-Fächer führt zu einem nicht mehr reparablen Schaden. Wir müssen uns wieder auf die Aufklärung besinnen, welche philosophischen Ideen gab es.“
Ausgrenzung durch Abgrenzung
Man kann’s ja verstehen, wenn beklommene Wissenschaftler angesichts der multiplen und unübersichtlichen Krisen nach einer gesellschaftlichen „Reset-Taste“ suchen und alte Zustände vor dem digitalisierten Turbokapitalismus wieder herstellen wollen. Aber warum sollen wir die 1970er Debatte um die „zwei Kulturen“ (Snow) wiederbeleben – Jahrzehnte nach „Technologiefolgenabschätzung“ , den nordrhein-westfälischen CULTEC-Kongressen und den vielen wegweisenden Arbeiten am Wissenschaftszentrum oder am Wuppertal-Institut? Will Hufer „böse Wirtschafts-, Natur- und Ingenieurwissenschaften“ gegen „gute Geistes- und Sozialwissenschaften“ ausspielen?
Im Zuge der aktuellen Populismus –Debatte gewinnen die phänomenologischen Beobachtungen des Philosophen und Soziologen Max Scheler zum Ressentiment wieder mehr Aufmerksamkeit. Ressentiments zu schüren fällt bekanntlich bei den Ohnmächtigen, Verlierern, Zurückgesetzten am leichtesten. Schon 1912 beschrieb Scheler in „Ressentiment und moralisches Werturteil“, wie der heimliche Groll, das Unterdrücken von Racheimpulsen, von Zorn, Neid und Wut die „seelische Selbstvergiftung“ fördert. Wer immer gute Miene zum bösen Spiel macht, wer Affekte in sich begräbt, ist besonders anfällig für Ressentiments. Er verdrängt, empfindet Angst und Ohnmacht und kann am Ende nicht einmal mehr sagen, wovor er sich fürchtet oder wozu er ohnmächtig ist. Von größter gesellschaftlicher Bedeutung seien daher – so Scheler - „Entladungsmittel der Massen und Gruppenaffekte.“ Dabei spricht Scheler nicht von Konsum und Zerstreuung, sondern von den parlamentarischen Institutionen, der Strafjustiz und der Presse.
Es ist wohl nicht besonders zukunftsweisend, über „Entpolitisierung“ und den Machtverlust des Nationalstaats zu lamentieren und dabei pauschale Ressentiments gegen Wirtschafts- und Naturwissenschaftler zu schüren: „Wir Philosophen und Ihr Technokraten“ …
Grenzen zu überschreiten und zu überwinden gehört zum Menschsein. Grenzen zu ziehen offenbar auch. „Wir und Ihr“ – „Gewinner und Verlierer“: Identität besteht aus Vergleichen. Daher spielen Ab- und Ausgrenzungen nicht nur im zwischenmenschlichen Alltag, sondern auch in der Politik eine wichtige Rolle. Denn Grenzen haben Tyrannenmacht. Das wusste schon Friedrich Schiller. Um Grenzen werden Kriege geführt. „Denn ein Wir“ muss wissen, wen es ablehnt. Mit Abgrenzungen werden Ressentiments geschürt. Und wer sich als Verlierer empfindet , ist offen für Ressentiments. Schelers Beispiele der alten Jungfer oder des pensionierten Beamten zeigen: für die Ressentimentempfänglichkeit macht es keinen Unterschied, ob von materiellen, seelischen oder ideellen Verlusten die Rede ist. Hufers MINT-These könnte bei Gelegenheit dahingehend analysiert werden.
Entgrenzung und dynamische Stabilisierung
Entgrenzung bedeutet Freiheit und Bodenlosigkeit zugleich. Das ist die Ambivalenz, die in gesellschaftlichen und persönlichen Umbruchsituationen auszuhalten ist. Das ist wohl gemeint, wenn Hufer davon spricht, dass die säkularisierte Gesellschaft zur Freiheit verurteilt sei. Aber lässt sich daraus der Schluss ziehen, Psychologen, Soziologen und Sozialarbeiter könnten den gesellschaftlichen Sprengstoff entschärfen, indem sie freie Menschen dazu animieren, sich für mehr französische Revolution, weniger Konsum oder Kants kategorischen Imperativ stark zu machen? Kann politische Bildung unabhängig von den gesellschaftlichen Verhältnissen wirken oder sie gar zum Einsturz bringen?
Wohl eher nicht, denn das, was Hufer im Juristendeutsch mit der „normativen Kraft des Faktischen“ umschreibt, analysierten Philosophen und Soziologen schon vor Jahrzehnten als „stahlhartes Gehäuse der Hörigkeit“ (Max Weber), als die „Dialektik der Aufklärung“ (Adorno/Horkheimer) oder als „Entfremdung“ (Marx).
Deren Folgen untersucht der Jenaer Soziologe Hartmut Rosa in seinem jüngsten Buch „Resonanz. Eine Soziologie der Weltbeziehung“. Es geht um die Stabilisierung der kapitalistischen Gesellschaften. Die funktioniert nur dynamisch und mit Steigerungsimperativen. Damit’s weiter gehen kann wie bisher, müssen Produktion und Konsum wachsen, Reichweiten vergrößert, Tempo beschleunigt, Informationen verdichtet und Optionen vermehrt werden. Genau das was unter den Begriffen „Globalisierung“ „internationale Wettbewerbsfähigkeit“ oder „digitale Agenda“ derzeit passiert und was Hufer als „einseitige Konzentration auf die MINT-Fächer“ beklagt. Ohne sie würde der Kapitalismus im gesellschaftlichen Kollaps enden. Es geht um eine andere Wissenschaft, die Systemgrenzen überwinden hilft.
Durch den dynamischen Stabilisierungszwang geraten Wirtschaft und Gesellschaft zunehmend in Widerspruch zum menschlichen Resonanzverlangen, zu Affekten und Emotionen, zu Selbstwirksamkeitserwartungen. Vor allem dann, wenn die Wirtschaft genau dieses menschliche Verlangen als Ressource nutzt, um Konsum und Produktivität anzuheizen. Und anstatt für Gleichheit und Brüderlichkeit zu kämpfen, sollen die Konsumbürger in gekauften virtuellen Realitäten eines digitalen Utopia ihre Gefühle ausleben, um im wirklichen Leben den zweckrationalen Steigerungsimperativen folgen zu können.
Utopia und der historische Blick
Nur noch Utopien sind realistisch. Hufer greift auf den klugen Satz des Sozialphilosophen Oskar Negt zurück. Aus diesem Gedanken können gut vermarktbare Softwareprodukte entstehen, die Konsum und Wirtschaftswachstum ankurbeln. Negt geht es um soziologische und politische Phantasie. Dann könnten Utopien zu Leitsternen werden, die die Menschen in ihr gegenwärtiges Alltagshandeln integrieren können. Solche Utopien fangen bei den universellen Menschenrechten an, gehen über Ulrike Guérots animierende Utopie einer europäischen Republik ohne Nationalstaaten oder Paul Masons Postkapitalismus und hören bei den neuen Genossenschaften oder den verschiedenen Transition-Town-Initiativen noch lange nicht auf.
Die Chancen eines neuen aufgeklärten Individualismus sind mindestens genauso groß wie die Chancen für Hufers Schreckensvision der eingezäunten Wohlstandsinseln. Dieser Individualismus könnte - virtuell und real vernetzt - die alten Ideen der Sozialdemokratie und Ludwig Erhardts „Wohlstand für alle“ ökologisch erneuern und daraus ein postkapitalistisches System entstehen lassen, in dem sich die Absurditäten der finanzmarktgetriebenen Globalisierung von selbst auflösen.
Dass derartige Ideen auch die klassischen politischen Institutionen wieder zum Leben erwecken können, zeigen erste unterschwellige Veränderungen durch politische Pflänzchen wie Occupy, Podemos, Syriza, Sanders, Corbyn. Ob aus ihnen eine andere Welt entstehen kann, weiß man noch nicht. Analytisch plausibel ist hingegen Kästners Satz, dass es so nicht weiter gehen kann, wenn es so weiter geht. Wie es weiter gehen muss, damit es weiter gehen kann, ist eine Frage, der sich Geistes- und Sozialwissenschaften, Natur- und Ingenieurswissenschaften und die von Hufer in Anlehnung an Ralf Dahrendorf so genannten gesellschaftlichen Ligaturen gemeinsam stellen müssen. Das DFG-Projekt zur Postwachstumsgesellschaft ist ein erster Anfang.
Nachhaltige Entwicklung heißt auch, die Kultur des Machens durch eine des Lassens des ergänzen: Loslassen, zulassen, belassen… In seinen verschiedenen Plädoyers für gelassenes Zukunftsdenken und in seinem Buch „Der leise Atem der Zukunft“ wiederholt der Publizist Ulrich Grober ein Leibniz-Zitat: Die Gegenwart ist aufgeladen mit Vergangenheit – und geht schwanger mit der Zukunft.“
Die Geschichte ist also noch nicht zu Ende. Hufers Apell an die Ideen von 1789 ist daher längst nicht so simpel wie er scheint. Denn auch 40 Jahre nach dem Tod von Mao Tse Tung gilt sein (angeblicher) Satz auf die Frage nach den Auswirkungen der Französischen Revolution: „Für eine Beurteilung ist es noch zu früh.“