Mittwoch, 24. September 2025
Nach dem Höllensommer und vor dem Schneechaos: Ein Kuss kann mehr verändern als ein 'social media post'
„Alle reden vom Wetter. Wir nicht.“ - Der vom Filmemacher Edgar Reitz erfundene und von der Werbeagentur McCann Ericson entwickelte Slogan entfachte im Herbst 1966 eine viel beachtete und mehrfach kopierte oder variierte Werbekampagne der Deutschen Bundesbahn (1). Der Sozialistische Deutsche Studentenbund (SDS) machte daraus das erste ironische Werbeposter für eine politische Haltung. Von ihm wurden über 50.000 Exemplare gedruckt, die an vielen Zimmerwänden (nicht nur) links orientierter Menschen hingen. Das Plakat gilt bis heute als ikonischer Beitrag zur 68er Revolte. (2) Es hat Sammlerwert und steht für lockere Reflexion und Aufklärung.
Die gesellschaftliche Bewegung des „undogmatischen Frühlings“ endete im Herbst 1977 (3). 1990 zogen die Grünen mit dem Slogan „Alle reden von Deutschland. Wir reden vom Wetter“ in den Bundestagswahlkampf. Sie scheiterten damit an der Fünf-Prozent-Hürde. Heute ist der früher unverbindliche Small Talk über das Wetter endgültig in den Sog eines Kulturkampfes geraten und „Die Deutsche Bahn hat mehr Schaden an der Demokratie angerichtet als echte Demokratiefeinde“ (4).
Kostengünstig Emotionen mobilisieren
Wenn die Lösungen materieller Herausforderungen komplex, teuer oder unangenehm zu werden drohen, rufen Menschen und Gruppen, die sich zur politischen oder wirtschaftlichen Elite zählen, gern schon mal einen Kulturkampf aus. Der lenkt ab, kostet wenig, mobilisiert Emotionen, stiftet Identität durch Polarisierung oder sorgt für den Rückzug aus dem illusorischen Projekt, die ökologischen Probleme der Erde im nationalen Standortwettbewerb mit möglichst wenig wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Nebenfolgen lösen zu wollen.
Statt über Menschenrechte, Eigentumsfragen, Kapitalinteressen oder Immobilien- und Bodenspekulation zu debattieren, wird die Wohnungsfrage in emotionalisierte Streitigkeiten über Migration und Integration abgelenkt: „Die Geflüchteten nehmen uns den Wohnraum weg.“
Statt sich über Dekarbonisierung der Wirtschaft, Energiewende oder die Grenzen einer grünen Wirtschaftstransformation auszutauschen, wird über Verbote, Verzichtsideologie und den vermeintlichen Lustgewinn durch Fleischverzehr schwadroniert. Das Ziel ist allzu offensichtlich: die ökologische Transformation zu verzögern, um fossile Profite zu sichern und Debatten über strukturelle Infrastruktur auf individuelle Konsumfragen zu verschieben.
Statt über unterfinanzierte Bildungssysteme, soziale Ungleichheit, Kapitalismus Kolonialismus oder über strukturelle Defizite in der Gesundheitspolitik zu diskutieren, wird die politische Energie in das Pro und Contra von Wokeness, Gendersternchen oder Unisextoiletten absorbiert.
Materielle Probleme ausblenden und mit symbolischen Kämpfen von ihnen ablenken, das ist nicht neu. In den Brot- und Hungerkrisen der Französischen Revolution über höfische Kultur und Religion debattiert. Von den katastrophalen Arbeitsbedingungen zu Beginn der Industrialisierung sollten Fragen zur Gottlosigkeit der Gewerkschaften oder ein Kulturkampf zwischen Staat und katholischer Kirche ablenken. In Zeiten dramatischer Inflation und Arbeitslosigkeit dienten Juden, Linke und Intellektuelle als Sündenböcke…
Es geht immer wieder darum, mit medialer Logik und politischer Instrumentalisierung komplexe, systemische Probleme zu personalisieren und gesellschaftliche Wut in ungefährliche Bahnen zu lenken – ungefährlich für die eigentlichen Macht- und Besitzverhältnisse.
Das Wetter im Schlachtfeld der Ausrufezeichen
Dass dieser Mechanismus mittlerweile in den früher als unverbindlich geltenden Small Talk über das Wetter eingreift, zeigt der Redakteur Dr. Velten Schäfer in seinem am 21. September 2025 veröffentlichten „Freitag“ -Kommentar: „Im Reden übers Wetter zeigt sich zugespitzt der Geist unserer Tage, der alles – wirklich: alles – von der Sachfrage auf das Schlachtfeld eines überemotionalen Kulturkampfs verschiebt. […] Gerät doch heute, wer im Juli über die Hitze klagt, rasch in den Verdacht, ein bio-urbaner Lastenrad-Freak zu sein, der für das Klima am liebsten die Wirtschaft verbieten würde und wohl auch nicht für die Nationalmannschaft im Herrenfußball jubelt.“ (5)
Schäfers Text mündet in die flehende Frage: „Könnten wir uns darauf einigen, wenigstens bei Wetterprognosen etwas sparsamer mit den Ausrufezeichen umzugehen? Wenigstens hier einmal aus den Schützengräben der Culture Wars zu klettern und einen besorgniserregenden Vorgang in der materiellen Realität – die Erwärmung der Erde – in angemessener Ernsthaftigkeit zu beobachten? Und das dann womöglich auf andere Felder zu übertragen?" (5)
Ausgangspunkt von Schäfers Überlegungen war die nachweislich falsche wetter.net -Langzeitprognose vom 16. Mai 2025: „Europäisches Wettermodell zeigt klare Tendenz: Deutschland droht 2025 ein „Höllensommer“ (6). Sie wurde am 21. August 2025 ergänzt durch: „Erste Prognose für Winter-Wetter 2025/26: Eiskalter Frühstart mit Schneechaos droht.“ (7)
Wetter.net spitzt seine langfristigen Vorhersagen gern mit spektakulären Überschriften zu, nimmt sie jedoch in den Texten weitgehend wieder zurück.
„Ob wir tatsächlich auf einen „Höllensommer“ zusteuern, lässt sich aktuell noch nicht mit letzter Sicherheit sagen. Denn meteorologisch betrachtet ist der Begriff nicht eindeutig definiert – meist meint er eine Kombination aus anhaltender Hitze, extremer Trockenheit und tropischen Nächten über viele Wochen hinweg. Genau dieses Szenario erscheint laut den Langfristprognosen des ECMWF aber zumindest im Bereich des Möglichen.“ (6)
„Zusammengefasst bleibt der Winter 2025/26 ein echtes Rätsel: Anzeichen für kalte Ausreißer sind da, vor allem, wenn der Polarwirbel schwächelt oder eine Stratosphärenerwärmung einsetzt. Gleichzeitig sprechen mehrere Modelle für mildere Monate mit häufigem Regen – ein Muster, das wir in den letzten Jahren oft erlebt haben.“ (7)
Der Münchner Philosoph Prof. Dr. Hans-Martin Schönherr-Mann monierte am 23. September 2025 in der WELT, dass im Sommer 2025 die Wetterkarten der Tagesschau bereits bei Werten von 28 oder 29 Grad „in tiefstem Alarmrot“ eingefärbt gewesen seien „während dieselben Karten 2005 noch Regionen mit 34 Grad in strahlendstem Sonnengelb präsentierten.“ (8) Ende August habe er bereits auf BR 24 gehört, dass der durchwachsene Sommer 2025 immer noch wärmer gewesen sei als frühere Sommer. Es sei ein „Problem der Medien, dass sie durch schlechte Nachrichten die Welt schlecht machen, also auch sich selbst“ (8)
Mit medialen Dramatisierungen und missionarischem Ehrgeiz erweist man dem Umgang mit der Erderhitzung keinen guten Dienst. Auch das gehört zur gegenwärtigen Debatte um Roll back, Polarisierungen, Triggerpunkte, Vibe shifts oder Zerstörungslust.
Wann lernen wir, den Öko-, Gerechtigkeits- und Kriegskatastrophen mit vollem Ernst und Veränderungswillen ins Gesicht zu schauen und dabei zu singen, zu tanzen, zu lieben und die Gaben der Erde zu genießen?
Mit vollem Ernst singend und tanzend analysieren
Es gab mal einen Sommer, der bis heute als Aufbruch, kollektives Erwachen, als leidenschaftlicher Ruf nach Liebe, Frieden und Freiheit gilt. Dieser „Sommer der Vibrationen“ wurde zum Manifest gegen Krieg, gegen Konventionen, gegen die Enge der alten Welt, für Gemeinschaft, Ekstase, Spiritualität, Naturverbundenheit und Lebenslust. Er gilt heute als der kulturelle Ursprung emanzipatorischer Öko-Bewegungen. Er war ein Beweis, dass Lust und Wandel sich nicht ausschließen müssen. (9)
In einer Welt, die unter der Last von Ökokollaps, Ungerechtigkeit, US-amerikanischer Systemtransformationen, Spaltungen und digitaler Erschöpfung ächzt, scheint der Ruf nach nüchterner Analyse und rationaler Politik alternativlos.
Doch was, wenn eine sinnliche, lust- und liebevolle, eine spielerische Kulturrebellion nicht nur Ablenkung böte, sondern uns mit Musik, Berührung, Farben und Gemeinschaft einen anderen Zugang zur materiellen Realität verschafft? Kann sie der Grünvergrauung statt einer blauen eine bunte Alternative für Deutschland entgegensetzen? Liebe statt Hass, Visionen statt Zynismus, Lebensfreude statt Gewalt. Heilen statt spalten. Vertiefen statt ablenken...
Wer tanzt, kann nicht gleichzeitig marschieren, spürt aber den Boden unter den Füßen. Wer liebt, kann nicht ausgrenzen, begreift aber die Zerbrechlichkeit des Lebens. Wer träumt, kann nicht unterdrücken, aber Spielräume für neue Narrative eröffnen. Berührung ist der Beginn jeder echten Veränderung.
Statt sich weiterhin in digitalen Echokammern zu verlieren, könnten wir doch vor Ort wieder reale Räume schaffen – Gärten, Plätze, Ateliers – in denen Menschen mit klugen Köpfen und offenen Herzen sich zuhören, feiern und begegnen. Plätze der Magie, die beweisen, dass ein Kuss mehr verändern kann als ein 'social media post'...
Verweise
1. Wikipedia. Alle reden vom Wetter. Wir nicht. [Online] 16. Juni 2024. https://de.wikipedia.org/wiki/Alle_reden_vom_Wetter._Wir_nicht.
2. Gabriele Renz. Das Plakat der Bewegung. Frankfurter Rundschau. [Online] 30. Januar 2019. https://www.fr.de/politik/plakat-bewegung-11592120.html
3. Wikipedia. Göttinger Mescalero. [Online] 18. September 2025. https://de.wikipedia.org/wiki/G%C3%B6ttinger_Mescalero
4. Harald Welzer. Über toxische Politik, den Ist-Zustand Deutschlands und unsere Zukunftsfähigkeit. Hotel Matze. [Online] 18. September 2025. https://www.youtube.com/watch?v=tPI_qP_tpSQ
5. Velten Schäfer. Selbst das Wetter ist jetzt Teil eines Kulturkampfs. Freitag.de - Bezahlschranke - . [Online] 21. September 2025. https://www.freitag.de/autoren/velten-schaefer/haeme-nach-dem-hoellensommer
6. Dominik Jung. Europäisches Wettermodell zeigt klare Tendenz: Deutschland droht 2025 ein „Höllensommer“. Frankfurter Rundschau. [Online] 16. Mai 2025. https://www.fr.de/panorama/europaeisches-wettermodell-zeigt-klare-tendenz-deutschland-droht-2025-ein-hoellensommer-zr-93725219.html.
7. Dominik Jung. Erste Prognose für Winter-Wetter 2025/26: Eiskalter Frühstart mit Schneechaos droht. Merkur.de. [Online] 21. August 2025. https://www.merkur.de/deutschland/fruehstart-mit-schneechaos-droht-erste-prognose-fuer-winter-wetter-2025-26-eiskalter-zr-93890349.html
8. Hans-Martin Schönherr-Mann. Der verdorbene Sommer. DIE WELT. 23. September 2025.
9. Wikipedia. Summer of love. [Online] 17. November 2023. https://de.wikipedia.org/wiki/Summer_of_Love.