niederrheinisch - nachhaltig 

Freitag, 20. Mai 2016

"Unsere erfolgreichen Baugebiete” – Über das Siedeln im Grenzland  

© Gartensiedlung Viersen

Manchmal ist es der Wunsch anders zu leben und zu wohnen, der junge und alte Menschen dazu treibt, sich mit Architektur zu beschäftigen. Das,  was die Jungen in den meisten Neubauvierteln des Grenzlands wahrnehmen, mag zwar schön aussehen, standardisiert aber junge Lebensvisionen: Vater, Mutter, zwei Kinder, zwei Autos, ein Haustier. Auf die Fragen, wohin mit einem pflegebedürftigen Großelternteil oder wo man zusammen mit Freunden und deren Kindern wohnen oder wie man Arbeit und Wohnen zusammenbringen könnte, bieten die Neubauviertel des Grenzlands selten eine passende Antwort. Die Baby-Boomer werden alt.. Viele haben Vorstellungen, wie sie ihre letzte Lebensphase in autonomer Geselligkeit gestalten wollen und suchen dazu – vergeblich – nach geeigneten architektonischen Hüllen. Die 60 Jahre alte Diagnose des Bauhaus-Begründers Walter Gropius bleibt offenbar aktuell: “ Die Krankheit unserer heutigen Städte und Siedlungen ist das traurige Resultat unseres Versagens, menschliche Grundbedürfnisse über wirtschaftliche und industrielle Forderungen zu stellen.” 

Und so ist es wohl der zukunftsvergessene Blick auf die kurzfristigen Bodenvermarktungseuros, der Kommunalpolitikerinnen und -politiker im Grenzland  von “unseren erfolgreichen Baugebieten” sprechen und nach noch mehr Siedlungsfläche rufen lässt. Doch wie lange bleiben Zersiedelung und Versiegelung ökologisch und ökonomisch tragbar? Was bedeuten zukünftig eigentlich “Wohnen”, “Privat sein” oder “öffentlicher Raum”? Welche zwischenmenschlichen Begegnungsmöglichkeiten sind für ein gutes Leben vonnöten? 

Schon heute beklagen viele die kommerzielle Überformung der öffentlichen Räume. Es ist ja mittlerweile ein eher seltener Luxus, in der Öffentlichkeit gemütlich sitzen und reden zu können, ohne was bestellen oder einkaufen zu müssen. Man braucht kein Prophet zu sein, um zu prognostizieren, dass in einer bunter, älter und ärmer werdenden Gesellschaft die Nachfrage nach nicht-virtuellen Treffmöglichkeiten ohne Konsumerwartungen steigen wird. 

Gartensiedlung Viersen

© Gartensiedlung Viersen

Eine der wenigen  Alternativen  zu den klassischen “Kraut und Rüben” – Baugebieten der Region bietet die Gartensiedlung Viersen.  Sie geht auf eine Initiative des ehemaligen SPD-Ratsherrn Heinz Prost zurück, der mit innovativen Ideen dem Bevölkerungsrückgang und drohendem städtebaulichen Verfall von Süchteln-Vorst entgegen wirken wollte. In Martin Breidenbach und seiner “WohnWerkStadt” fand er einen  geeigneten Partner für die Bebauung einer ehemalig landwirtschaftlich genutzten Fläche neben der  Franziskus-Schule. Breidenbach verzichtete als erstes auf die klassische Grundstücksparzellierung, plante kleine und große Wohnungen, Mikrohäuser und viele teilbare Wohnmöglichkeiten, um von vornherein ein Wohngebiet zu schaffen, das mehrgenerationenfähig ist und sich den wandelnden Lebensbedürfnissen seiner Bewohner und Bewohnerinnen anpassen kann. Energetische Hochwertigkeit, Wärmeschutz und ökologische, wohnmedizinisch verträgliche Baumaterialien sind für die vorwiegend 2 ½ - geschossigen -  ans “Bauhaus” erinnernden -  Gebäude selbstverständlich.  Gemeinschaftsflächen wie ein Kinderspielplatz, eine große Wiese mit Lehmofen, eine Boulebahn oder auch die von Buchenhecken eingerahmten Fußwege laden zur Begegnung ein. Im kälteren Dezember hat sich – so berichtet Martin Breidenbach – der Brauch entwickelt, Häuserfenster von 1 bis 24 zu nummerieren. Und wie beim Adventskalender öffnet sich an jedem Tag eine neue Tür – zum gemeinsamen Plausch beim Kaffeetrinken. 

“Planen – Bauen – Wohnen” ergänzt Breidenbach konsequent ums “Wirtschaften”. Die klassischen Garagen wachsen  zu baurechtlich verankerten Nebengebäuden an, in denen man sich auch werkend und hauswirtschaftend betätigen kann. Überlegungen gibt es zu einer Gemeinschaftswerkstatt und zu Car-Sharing. Geplant ist ein Dorfladen im “Torhaus Nord” am Eingangsbereich der Jakob-Engels-Straße. 

Gestaltungshoheit gewinnen

© Gartensiedlung Viersen

Breidenbachs Konzepte machen deutlich: Es ist an der Zeit, dass Kommunalpolitik die Gestaltungshoheit über ihre Siedlungsflächen zurückgewinnt. Denn Baugebiete, die schon nach zwei Jahrzehnten eher die vergangenen Gewinne der Bauunternehmen als das gegenwärtige Leben der wohnenden Menschen widerspiegeln, sind langfristig keine gute Visitenkarte für eine Kommune. 

Den “Häuslebauer”, den zum Beispiel die Schwalmtaler Grünen in ihrem  - erstaunlich entpolitisierten -  Wahlprogramm beschreiben, gibt es nicht. Niemand baut sich selbst ein Haus. Aber wenn Kommunalpolitik zur besseren “Flächenvermarktung” auf Gestaltungssatzungen und regional abgestimmte Bebauungspläne verzichtet, diktieren Bauunternehmen und die mit ihnen komplex verwobene Industrie des “Schlüsselfertigen”,  wie gebaut und gelebt werden soll. 

Architekten wie Martin Breidenbach, die mit sozialer Phantasie und Vorstellungen von menschlichen Bedürfnissen arbeiten, brauchen mehr Rückenwind. Und der entsteht nur, wenn auch die Kommunalpolitik eigene Gestaltungsideen entwickelt: Wie sollen unsere Plätze und öffentlichen Räume zur zwischenmenschlichen Begegnung, zum gemeinsamen Lernen, Feiern und Diskutieren aussehen? Was müssen Wohnhäuser bieten, wenn Leben und Arbeiten hektischer, unsicherer, bunter und die Bürger(innen) älter und ärmer werden? Wer und was fördert und wer und was bremst die Umsetzung der Ideen? 

Gewerbe in den Höfen, Häuser als flexible Systeme, Läden an der Ecke, Gemeinschaftsräume zum Feiern, Reparieren und Werken, Wohnmöglichkeiten für Singles, Gemeinschaften, Klein- und Großfamilien, spielfreudige “Urwaldzonen”, Wohnen und Arbeiten unter einem Dach,  gute Anbindungen an den öffentlichen Verkehr, atmende Materialien, Fassaden, die auf  Sonne reagieren, Räume, die ihr eigenes Klimasystem erzeugen… Vielleicht sind ja das  zukünftige kommunalen Indikatoren “für unsere erfolgreichen Baugebiete”. 


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