Dienstag, 9. Oktober 2018
Nachhaltig produzieren und konsumieren – Vollzugsdefizite auf dem Weg zum „One Planet Lifestyle“
Bald können sie goldene Hochzeit feiern: die Umweltpolitik und das Vollzugsdefizit. Seit etwa fünf Jahrzehnten entwickelt sich der globale Umwelt-, Menschen- und Tierschutz zu einem eigenständigen Politikbereich. Er wird ständig von Diskussionen über Vollzugsdefizite begleitet. Ökosoziales Recht wird unzureichend umgesetzt. Oft steuert es nicht, sondern dient als Medium für die Botschaft, dass angeblich gesteuert wird. Schein und Sein fallen auseinander. Man nennt es „Symbolische Umweltpolitik“. Auch über die Kumpanei zwischen Staat und ökosozialen Krankmachern wird nicht erst seit dem „Diesel-Skandal“ geklagt. Seit 1994 steht der Nachhaltigkeitsartikel 20a im Grundgesetz: Dort ist der Schutz der natürlichen Lebensgrundlagen nach Maßgabe von Gesetz und Recht verankert. Das heißt: Fragen der globalen Nachhaltigkeit hängen eng mit Verwaltungskapazitäten, Vollzugsfeindlichkeit oder juristischem Opportunitätsermessen zusammen. Noch gilt: Wenn es um nachhaltige Entwicklung geht, handeln Unternehmen, Staat und Konsumenten nicht so wie es ihrem Wissen und ihren ethischen Grundsätzen entspricht. Die VHS-Grenzlandgrün-Veranstaltung „Entfesselt und fair – Welt retten mit dem Einkaufskorb?“ beschäftigte sich vor diesem Hintergrund mit den Möglichkeiten und Grenzen des nachhaltigen Konsums und der ökofairen Produktion in einer nicht-nachhaltigen Welt.
Gäste waren die Politikwissenschaftlerin Eva Maria Reinwald und der Volkswirt Professor Dr. Martin Wenke. Sie arbeitet als Promotorin für globale Wirtschaft und Menschenrechte beim Südwind-Institut. Er leitet das Fachgebiet für Ökologie und Ökonomie am Fachbereich Wirtschaft der Hochschule Niederrhein, hat 2017 zusammen mit seinem Kölner Kollegen Frank Gogoll das Buch „Unternehmensethik, Nachhaltigkeit und Corporate Social Responsibility“ veröffentlicht und unterstützt im EthNa –Kompetenzzentrum vor allem mittelständische Unternehmen der Textil- und Bekleidungsbranche dabei, ökonomisch erfolgreiches Handeln sozial und ökologisch verträglich zu gestalten. EthNa ist eines von sieben nordrhein- westfälischen Zentren, die sich im Rahmen eines EFRE-Projekts mit der Corporate Social Responsibility (CSR) beschäftigen. Das Projekt läuft aus. Landeswirtschafts-, Innovations- und Digitalminister Andreas Pinkwart setzt im Folgeprogramm Regio.NRW einen Hauptschwerpunkt auf digitale Innovation. „Eine erstaunliche Verengung des Blickwinkels“, kommentiert Professor Wenke.
ISO 2600
Denn EthNA beschäftigt sich mit der operativen Umsetzung der ISO 2600. In dem Leitfaden geht es darum, wie Unternehmen ihre negativen ökologischen und gesellschaftlichen Auswirkungen vermeiden und minimieren und wie sie UN-Programme zur nachhaltigen Entwicklung oder die Regeln der internationalen Arbeitsorganisation im unternehmerischen Alltag umsetzen können. Im Mittelpunkt des ISO-Leitfadens stehen ethisches Verhalten, Transparenz und die Achtung internationaler Gesetze und Verhaltensstandards und der Interessen der sog. Stakeholder. Damit die sind die Gruppen und Einzelpersonen gemeint, die durch das unternehmerische Kerngeschäft unmittelbar und mittelbar berührt werden – vom Arbeitnehmer über den Kunden bis hin zu Umwelt- und Menschenrechtsorganisationen.
Pfiffige EU-Bürokraten
Das erleichtert die CSR- Berichterstattungspflicht zur gesellschaftlichen Verantwortung von Unternehmen. Im Juni 2017 veröffentlichte die Europäische Kommission eine „Leitlinie für die Berichterstattung über nichtfinanzielle Informationen“. Dahinter standen „pfiffige EU-Bürokraten“ (Wenke), die die relevanten globalen Handlungsempfehlungen zu Menschenrechten, Nachhaltigkeitsstandards und Klimaschutz als bewährtes Verfahren für die verbindliche Umsetzung der nichtfinanziellen Erklärung beschrieben. Zu dieser Erklärung sind per Richtlinie 2014/95/EU die großen europäischen Unternehmen von öffentlichem Interesse mit durchschnittlich mehr als 500 Beschäftigten, einer Bilanzsumme von mindestens 20 Millionen Euro und einem Nettoumsatz von mindestens 40 Millionen Euro verpflichtet. Zwar gibt es keine unmittelbaren Berichtspflichten für die kleinen und mittelständischen Unternehmen, aber die großen Unternehmen binden ihre Zulieferer über Verhaltenskodizes (codes of conducts und compliance-Mangement-Systeme) in ihre Berichtspflicht ein (Supply-Chain-Reporting). Wichtiges Stichwort dabei ist die due diligence. Sie beschreibt eine besondere Sorgfaltspflicht der Unternehmen in Bezug auf ihr Kerngeschäft. Wenke: „Wenn ich stattdessen in CSR- und Nachhaltigkeitsberichten über Work-Life-Balance, Betriebskindergärten, Lohnanreizsysteme oder regionale Spendenaktivitäten lese, sträuben sich mir die Haare. Das hat mit dem Kerngeschäft nichts zu tun.“ Die Berichte sollten Informationen über die Umweltfolgen des Kerngeschäfts und dessen Auswirkungen auf die Arbeitnehmerbelange und die Gesellschaft enthalten. Sie sollten über Korruptionsvermeidung und die Beachtung der Menschenrechte informieren und die wesentlichen Risiken der Geschäftstätigkeit beschreiben. (§ 289c HGB).
Dazu erforderlich ist der Dialog mit den gesellschaftlichen Akteuren. Wenke: „Ohne den Dialog kann das Unternehmen nicht herausfinden, welche Erwartungen die Gesellschaft an das Unternehmen hat. Systematisches Schweigen selbst gegenüber den Mitarbeitern kann eine existenzielle Krise auslösen, denn wechselseitige Fehleinschätzungen blockieren die Potenziale positiver gesellschaftlicher Wirkungen unternehmerisch verantwortlichen Handelns.“
Problem sei, dass die Berichte meist in den PR-Abteilungen der Unternehmen entstehen. Unternehmen müssen Geld verdienen und für Kunden und Arbeitnehmer(innen) attraktiv bleiben. Da kann zu viel Schönrederei und greenwashing ebenso schädlich sein wie eine zu offene und zu ambitionierte CSR-Strategie. Wenke: „Daher werden die Begriffe Nachhaltigkeit und gesellschaftliche Verantwortung ziemlich verwässert.“ Geprüft werden die Berichte durch Wirtschaftsprüfer – meist nach Aktenlage, selten mit Stichproben „vor Ort“. Dadurch erhielten die Ratings und Rankings der sog. Watchdogs, wie der oekom-research eine kritisch korrigierende Funktion. In der Digitalisierung sieht Wenke mehr Chancen für Transparenz. Über block chains und QR-Codes könnten Lieferketten auch für den Endkunden transparent gemacht werden.
Textilbündnisse versus Super-fast fashion
Doch bisher beteilige sich kein Unternehmen an EthNa-Aktivitäten, weil Endkunden das einfordern. Im Gegenteil. Professor Wenkes Eindruck: „Mittlerweile tauschen manche Textilhändler alle zwei Wochen ihr Sortiment aus. Die Wertschätzung für Textilien nimmt ab. Sie werden teilweise nicht mehr gewaschen. Die Kunden kaufen nach dem Motto ‚Bezahl eins, kauf fünf und nehme sechs mit`.“ Eva Maria Reinwald unterstreicht:. „Fast fashion ist schnell, billig und wälzt die Risiken auf arme Menschen ab, die in unterbezahlten 12 Stunden Schichten ungeschützt Lärm, Staub, Chemikalien und sexueller Belästigung ausgesetzt sind. Sie müssen ihre Notdurft im Freien verrichten, weil keine Toiletten vorhanden sind.“ Eva-Maria Reinwald verweist auf die Untersuchung ihrer Kollegin Dr. Sabine Ferenschild. In „ Flinke Finger“ ist sie der Kinderarbeit in der Saatgutproduktion auf indischen Baumwollfeldern nachgegangen. Reinwald: „Mittlerweile werden weltweit jedes Jahr rund 80 Milliarden Bekleidungsstücke verkauft. Die Logik des Konsumierens hat Einfluss darauf wie produziert wird.“
Es gibt ökofaire Mode mit Siegeln, die auch von Nichtregierungsorganisationen empfohlen werden: Fair Wear Foundation, Fair trade certified cotton – für den Bereich Soziales. Positiv zu bewerten sind auch IVN-Naturtextil und der Global Organic Textile Standard (GOTS). Er hat entlang der gesamten textilen Lieferkette Nachhaltigkeitsrichtlinien erarbeitet – von der Rohstoffgewinnung über eine umwelt- und sozialverantwortliche Fertigung bis hin zur transparenten Kennzeichnung. Reinwald: „Aber auch bei zertifizierten Produkten kann es vorkommen, dass angegebene Standards nicht eingehalten werden, zum Beispiel wenn Auditoren nicht ausreichend geschult sind, um bestehende Missstände aufzudecken und Beschäftigte und lokale Akteure unzureichend in Prüfungen eingebunden sind. Auch gute Initiativen können Arbeits- und Menschenrechte nicht immer im vollen Umfang garantieren.“
Dies gilt auch für das Textilbündnis. Dieses Bündnis für nachhaltige Textilien entstand auf Initiative des Bundesentwicklungsministers Gerd Müller nach der verheerenden Rana-Plaza-Katastrophe in Bangladesh vom 24. April 2013. Angesiedelt ist es bei der Deutschen Gesellschaft für internationale Zusammenarbeit (GIZ). Zuvor hatte sich die Clean Clothes Campaign mit den verheerenden Bedingungen in der weltweiten Textilproduktion befasst. Das Textilbündnis umfasst rund 130 Mitglieder aus Wirtschaft, Politik, Gewerkschaften und Zivilgesellschaft und beschäftigt sich vorrangig mit Sozialstandards und dem Chemikalien- und Umweltmanagement.
Doch der Anteil der Kleidungsstücke, die als ökologisch und sozial „sauber“ eingestuft werden können, ist gering. Reinwald: „Es gibt zwar keine offiziellen Zahlen, aber das Bundesumweltamt schätzt den Anteil auf unter einem Prozent.“
Palmöl
Es ist geschmeidig, gut zu verarbeiten und sein Verbrauch ist massiv gestiegen. Palmöl ist mittlerweile allgegenwärtig. Es findet sich in Cremes, Waschmittel, Tütensuppen, Margarine, Schokoladenriegel, und im Biokraftstoff…Ölpalmen wachsen da gut, wo auch der Regenwald wächst. Daher wird immer mehr Regenwald gerodet. Das setzt Unmengen des im Boden und in der Vegetation gespeicherten Kohlendioxids frei. Nicht nur das Klima leidet. Kleinbauern und Indigene, die den Wald seit Jahrhunderten bewohnen, werden vertrieben. Seltene Tierarten verschwinden.
Aber es gibt Alternativen: Fertigprodukte meiden, weniger Fleisch (wegen Tierfutter) essen, weniger Auto fahren (wegen „Bioanteil“ im Kraftstoff). Am weit verbreiteteten RSPO-Siegel (Roundtable on sustainable palmoil) übt Eva Maria Reinwald Kritik: „Die Kriterien sind zum Teil vage formuliert. So ist zum Beispiel nicht ausgeschlossen, dass Palmöl auf für den Klimaschutz wichtigen Torfböden angebaut wird. Zudem kamen immer wieder Menschenrechtsverletzungen auch bei Plantagen zertifizierter Unternehmen ans Tageslicht.“ Es gibt sozialökologische Alternativen: Serendipalm – von der GEPA zertifiziert - bietet 600 Bauern in Ghana ein Auskommen. Reinwald: „Sie bewirtschaften jeweils 2 Hektar. Im Vergleich zu den über 18 Millionen Hektar Palmöl-Anbaufläche weltweit geht es aber um eine ganz kleine Nische.“
Ökologische Fußabdrücke und gesetzliche Regulierungen
Textilien und Palmöl sind zwei Beispiele für einen weit verbreiteten nicht-nachhaltigen Konsum. In der allgemeinen Diskussion um globale Konsummuster spielt das Konzept des Ökologischen Fußabdrucks eine wichtige Rolle. Es macht Lebensstile vergleichbar und verdeutlicht die Überbeanspruchung der natürlichen Ressourcen. Bei allem Umweltbewusstsein: Es gibt einen statistischen Zusammenhang zwischen der Höhe des Einkommens und der Größe des ökologischen Fußabdrucks. Reinwald: „Entscheidend sind die Nutzung von Flugzeug und Auto sowie Größe und Heizbedarf der Wohnung. Auch der Fleischkonsum spielt eine wichtige Rolle.“ Hinweise zum nachhaltigen Konsum finden sich unter anderem hier:
https://www.siegelklarheit.de/home
https://www.nachhaltiger-warenkorb.de/
https://www.umweltbundesamt.de/umwelttipps-fuer-den-alltag%20/
http://www.uba.co2-rechner.de/de_DE/
Reinwalds Fazit: „Privater Konsum kann wichtige Impulse für globale Nachhaltigkeit setzen. Doch ohne eine guten Vollzug starker Umwelt- und Arbeitsgesetze geht es nicht. Wettbewerbsorientierte Unternehmen brauchen ein Spielfeld mit gleichen Regeln. Wir als Verbraucher und Verbraucherinnen sollten nicht nur beim Einkaufen aufpassen, sondern als Bürgerinnen und Bürger immer wieder kritisch nachfragen, die Vorreiter gerechten Wirtschaftens stärken, Menschenrechtsaktive und Gewerkschaften unterstützen, Transparenz und politische Veränderungen einfordern.“
Entfesselt und fair?
In Deutschland wird etwa jeder sechste Euro durch die öffentliche Hand ausgegeben. „Entfesselt und fair“: Die Überschrift des VHS-Grenzlandgrün-Abends hatte zu vereinzelten Irritationen geführt. Doch spätestens die Diskussion zum nordrhein-westfälischen Tariftreue- und Vergabegesetz brachte Klarheit. Mit dem Gesetz galt Nordrhein-Westfalen als Vorreiter zur Sicherung von Sozialstandards und fairem Wettbewerb. Doch das so genannte Entfesselungspaket der schwarz-gelben Landesregierung verkürzte das Gesetz von 18 auf vier Paragraphen. Seit der Neufassung vom 30. März 2018 sind die Kriterien Sozialverträglichkeit, Umweltschutz und Energieeffizienz für die Vergabe öffentlicher Aufträge entfallen. Für Reinwald und Wenke ein massiver Rückschritt auf dem Weg zur globalen Nachhaltigkeit.
Beide monieren, dass Deutschland bei der Umsetzung sozialökologischer Regeln und Standards ins Hintertreffen gerät. „Über deutsche Vollzugsdefizite im europäischen Umweltrecht könnte mein Kollege stundenlang referieren.“, so Wenke. Eva Maria Reinwald moniert die verwässerte deutsche Umsetzung der UN-Leitprinzipien für Wirtschaft und Menschenrechte im „Nationalen Aktionsplan“. Sie bleibe hinter anderen europäischen Staaten weit zurück, wie Berichte des Cora-Netzwerks für Unternehmensverantwortung nachgewiesen haben.
Fazit des Abends: Der nachhaltige „One Planet Lifestyle“ ist eine Herausforderung. Um die Welt mit dem Einkaufskorb zu retten, reicht es nicht sich auf Siegel zu verlassen. Zur global nachhaltigen Gestaltung von Produktion und Konsum müssen wir Transparenz fordern, uns aktiv in die Politik einmischen und Vollzugsdefizite anmahnen. Denn es geht beim nachhaltigen Konsumieren und Produzieren nicht nur um Wohlbefinden und gutes Gewissen. Es geht um elementare Menschenrechte und die natürlichen Lebensgrundlagen auf diesem Planeten.