niederrheinisch - nachhaltig 

Dienstag, 1. Dezember 2020

Über die Verletzlichkeit der nachhaltigen Entwicklung

Heute vor einem Jahr startete Ursula von der Leyen ihr erstes Amtsjahr als EU-Kommissionspräsidentin. Am kommenden Freitag sollte sie in Düsseldorf gemeinsam mit Elton John, Joy Denalane, Jack Johnson und Jeremy Rifkin den Ehrenpreis der Stiftung Deutscher Nachhaltigkeitspreis e.V. (DNP) entgegennehmen. Die Stiftung vergibt ihn in Zusammenarbeit mit der Bundesregierung, dem Rat für nachhaltige Entwicklung und den großen Verbänden aus Wirtschaft, Naturschutz, Forschung und Verwaltung.

„Die Erde ist ein Ganzes, aber die Welt ist es nicht.“ – Über den grünvergrauenden Nachhaltigkeitsblues im November 2024

Funktionale Schnittmengen 

Der Journalist und Rechtsanwalt Stefan Schulze-Hausmann hat den Preis 2008 ins Leben gerufen. Er ist Gründer und Geschäftsführer der COMENT GmbH. Die Kommunikationsagentur mit Büros in Düsseldorf und Berlin produziert seit 1990 Veranstaltungen in der Schnittmenge zwischen Unternehmen, Politik und Medien in „angemessener Verbindung von Inhalten und unterhaltenden Elementen“. Der Preis will zeigen, dass nachhaltiges Handeln soziale und ökologische Probleme löst und gleichzeitig Profitabilität und Wettbewerbsfähigkeit erhöhen kann.  

Das genau ist das Ziel des Green deal. Mit dem diesjährigen Preis soll Ursula von der Leyens Einsatz für dieses Ziel gewürdigt werden. Mit dem - von ihrem Vize- Kommissionspräsidenten Frans Timmermans vorangetriebenen - Projekt will die Kommission die europäische Wirtschaft mit einer Wachstumsstrategie so umbauen, dass die EU bis 2050 klimaneutral und zugleich weltweiter Spitzenreiter bei grüner Technologie wird. Timmermans stellte im Frühjahr Investitions-, Gesetzes- und Strategiepakete vor, mit denen Verkehr, Industrie, Landwirtschaft oder Bauwesen klimafreundlich umgebaut werden sollen. Dafür will die EU bis 2030 insgesamt 1 Billionen Euro investieren.  

Europäische Ankündigungen 

Bisher ist der "European green deal" nicht über das Ankündigungsstadium hinausgelangt. Aus der Wirtschaft kommt Kritik. Den als „Wende“ verkauften Beschluss zur Gemeinsamen Agrarpolitik, den der europäische Agrarrat unter Federführung der Bundeslandwirtschaftsministerin Julia Klöckner am 21. Oktober 2020 verkündete, will Timmermans rückgängig machen. Der  Beschluss läuft dem Green deal zuwider. Angesichts der Erderhitzung und des Biodiversitätsverlusts ist es den  steuerzahlenden Menschen  nicht mehr zu vermitteln, warum er landwirtschaftliche Flächen nach Größe anstatt nach Qualität der Bewirtschaftung subventionieren soll. Folgerichtig twitterte  Timmermans am 25. November 2020, dass er sich nachmittags mit den Aktivistinnen Greta Thunberg, Luisa Neubauer, Anuna De Wever Van Der Heyden und Adélaïde Charlier getroffen habe. Sie seien sich einig gewesen, dass die Kommission eine Agrarpolitik vertreten müsse, die im Einklang mit den Biodiversitätsstrategien, der angestrebten Klimaneutralität und der „Farm to fork-Strategie“ stehe.  

Derweil sperren sich gewählte Vertretungen aus osteuropäischen EU-Staaten gegen ein höheres Klimaziel - allen voran Polen, das seine Energie zu rund 80 Prozent aus Kohle gewinnt. Auch Ungarn, Tschechien oder Rumänien bremsen. Die Staaten verlangen mehr Geld für den Ausstieg aus der klimaschädlichen Kohlenutzung. Das könnte allerdings erst fließen, wenn Polen und Ungarn ihr Veto gegen den mehrjährigen Haushalt aufgeben. Damit protestieren die Staaten dagegen, dass EU-Förderung künftig an die Einhaltung rechtsstaatlicher Prinzipien geknüpft werden soll. Derzeit befindet sich der Green deal im Spannungsfeld zwischen einzelnen Lobbyinteressen und den rechtsstaatlichen Grundwerten Europas.  

Chinesische Mondfahrten 

Ursula von der Leyen verglich den Green deal im letzten Jahr mit der Vision der Mondlandung in den 1960er Jahren. Ob er tatsächlich zum angekündigten „Mann auf dem Mond - Moment“ wird, steht noch in den Sternen. Er könnte auch enden wie die Lissabon-Strategie, die Europa bis 2010 zum „dynamischsten wissensbasierten Wirtschaftsraum der Welt“ machen wollte...  

Am 23. November 2020 meldete die Weltwetterorganisation (WMO) neue Rekordwerte für die Treibhausgase in der Atmosphäre. Gestern nahm die Europäische Kommission den jährlichen EU-Fortschrittsbericht über den Klimaschutz an. Ergebnis für 2019: Rückgang der Treibhausgase um 3,7% bei einem Wirtschaftswachstum von 1,5%. Dazu erklärte Franz Timmermans: „Die Europäische Union beweist, dass es möglich ist, die Emissionen bei gleichzeitigem Wirtschaftswachstum zu senken.“ 

Gestern meldete die Weltraumbehörde INPE, dass im brasilianischen Amazonas-Gebiet innerhalb eines Jahres so viel Regenwald vernichtet wie zuletzt vor zwölf Jahren. Von August 2019 bis August 2020 wurden insgesamt 11 088 Quadratkilometer Regenwald zerstört. Die Entwicklungsvision der Bolsonaro-Regierung mit immer neuen Schutzgebieten für Landwirtschaft und Bergbau im Amazonasgebiet gefährdet die grüne Lunge und biologische Schatztruhe des Planeten. 

Im Kolonialismus liege der Ursprung der Klimakrise, argumentierten Imeh Ituen und Rebecca Abena Kennedy-Asante in der TAZ am 18. November 2019. Sie sind Mitglieder des Klimaschutzkollektivs „BIPoC Environmental and Climate Justice Berlin“  

Vor zwei Wochen sorgte die neue RECP-Freihandelszone für eine Kursexplosion auf den Aktienmärkten.  RCEP steht für "Regional Comprehensive Economic Partnership". Neben China und den zehn Asean-Staaten Vietnam, Singapur, Indonesien, Malaysia, Thailand, Philippinen, Myanmar, Brunei, Laos und Kambodscha beteiligen sich auch Japan, Australien, Südkorea und Neuseeland. Australien ist wichtiger Kohlelieferant für China. 

Derzeit wüten in Australien wieder mehr als 50 Buschbrände bei Temperaturen über 40 Grad und Windgeschwindigkeiten über 100 km/h. 

Heute teilt die China National Space Administration mit, dass sich die Mondsonde Chang’e-5 sich auf dem Weg zum Mond befinde, um dort Gesteinsproben zu sammeln. Offenbar wollen auch außereuropäische Menschen nicht nur symbolisch zum Mond. Es geht um Observatorien und Rohstoffe. Die Rechtsgrundlage stammt vom 27. Januar 1967. Der „Vertrag über die Grundsätze zur Regelung der Tätigkeiten von Staaten bei der Erforschung und Nutzung des Weltraums einschließlich des Mondes und anderer Himmelskörper“ ermöglicht die diskriminierungsfreie Erforschung und Nutzung des Weltraums.  Nationale Aneignung oder Benutzung sind im Weltraum ausgeschlossen, Wissensgewinne zur Erschließung neuer Wachstumsmärkte aber nicht. Der globale Wettbewerb wird schärfer. Die Zahl der hungernden Menschen steigt wieder.

Nachhaltige Abwärtstrends 

Die Rechtsgrundlage für die global nachhaltige Entwicklung der Erde ist jünger als der Weltraumvertrag. Die Agenda 2030 wurde am 25. September 2015 verabschiedet. Sie gilt als Aktionsplan für „Menschen, Planeten und den Wohlstand“. Sie will „den universellen Frieden in größerer Freiheit festigen“ und definiert die „Beseitigung der Armut in allen ihren Formen und Dimensionen (…) als die größte globale Herausforderung und eine unabdingbare Voraussetzung für eine nachhaltige Entwicklung.  

Der globale Nachhaltigkeitsbericht 2020 und der heute veröffentlichte Global Humanitarian Overview 2021 machen deutlich: COVID-19 hat die kleinen Erfolge in der globalen Nachhaltigkeit zunichte gemacht.  Das Virus hat die schwerste globale Rezession seit den 1930er Jahren ausgelöst. 235 Millionen Menschen haben ohne Hilfe von außen keinen Zugang zu Wasser und Nahrung. Die Zahl der Bedürftigen ist innerhalb des Jahres 2020 um 40% gewachsen, die politischen Konflikte haben sich verschärft. Sie sind der Hauptgrund dafür, dass 77 Millionen Menschen in 22 Ländern akuten Hunger leiden. Die letzten zehn Jahre waren die heißesten in der Menschheitsgeschichte. Krankheitsausbrüche nehmen zu. 

Die Pandemie kann 20 Jahre Fortschritte in der Bekämpfung von Aids, Malaria und Tuberkulose auslöschen. Sie kann uns aber auch deutlich machen, dass Weitermachen wie bisher keine Option mehr ist. Politiker*innen behaupten häufig, sie müssten erst "die Menschen mitnehmen und überzeugen", um nachhaltig agieren zu können. Fridays for future zeigt, wie Zivilgesellschaft die Politik vor sich hintreiben kann. Viel Zeit bleibt nicht mehr...

Um den Abwärtstrend einzudämmen, müsse die UN im Jahre 2021 rund 35 Milliarden US-Dollar für humanitäre Hilfe aufbringen, sagt Mark Lowcock, Chef des UN-Büros für die Koordinierung humanitärer Angelegenheiten. 2020 wurde der bisherige Rekordbeitrag von 17 Milliarden Dollar erreicht.  

Am 26. November 2020 meldete der DNP: „EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen nimmt ihre Auszeichnung für den europäischen „Grünen Deal“ im Frühjahr 2021 bei einer Sonderveranstaltung entgegen.“  

In der aktualisierten Programmankündigung zum Deutschen Nachhaltigkeitstag in Düsseldorf heißt es: „COVID-19 überlagert alles, auch die drängenden Themen der Nachhaltigkeit. Dabei bietet das Virus auch Chancen: Mehr Bewusstsein für die Verletzlichkeit unserer Systeme. Wichtige Erkenntnisse zu Anpassung und Verzicht. Neue Ideen für einen anderen Wirtschafts- und Lebensstil.“  

Das "Geschäftsmodell Nachhaltigkeit" steht erneut auf dem Prüfstand. Vor unseren Augen geht derzeit eine längst veraltete Epoche zu Ende. 

E-Mail
Infos
Instagram